Der promovierte Jurist und Unternehmensberater Francesco De Meo war 15 Jahre lang bis 2023 geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Helios-Kliniken. Helios gilt als Europas führender privater Gesundheitsdienstleister mit in Deutschland 78.000 Mitarbeitenden in 87 Kliniken. Nun hat der Insider Francesco De Meo ein Buch über die Schwächen unseres Gesundheitssystems geschrieben: „Den schlafenden Riesen wecken. Wie ein gesundes Gesundheitssystem entsteht, wenn wir es wirklich wollen“. Im Gespräch erklärt er, was er als Gesundheitsminister anders machen würde.
Deutschland steht in den Top 5 der OECD-Staaten bei den Gesundheitsausgaben, doch die Lebenserwartung bei uns ist geringer als in anderen westeuropäischen Ländern. Woran liegt das?
Francesco de Meo: Wenn man Geld ausgibt, aber das Ergebnis schlecht ist, dann muss es irgend etwas auf dem Weg der Verteilung geben, was nicht optimal läuft. Es gibt andere Länder, die offenbar weniger Geld besser einsetzen können. Es liegt also an unserem System. Wir verschwenden das Geld am falschen Platz. Wenn wir das besser machen würden, kämen wir mit dem Geld aus und das Ergebnis wäre besser.
Skizzieren Sie doch mal bitte, wie ein funktionierendes Gesundheitssystem aussehen könnte. ?
Francesco de Meo: Ein funktionierendes Gesundheitssystem beginnt mit dem Bedarf. Also muss analysiert werden, welche Population habe ich und was braucht diese an Gesundheitsversorgung. Und um diesen Bedarf herum schaffe ich dann idealerweise das, was nötig ist, nämlich Strukturen, aber auch Bildung, Erziehung, Prävention sowie altersgerechte Pflege. Je kleiner eine Population, desto besser kann ich bedarfsgerecht organisieren. Je größer, desto schwieriger wird es mit einem einzigen Standard, einer einzigen Struktur. Und das ist, glaube ich, unser Problem in Deutschland, dass wir glauben, wir könnten das mit einer großen einheitlichen Struktur bedienen, statt mit populationsbezogenen regionalen Strukturen.
Also zurück zu mehr Regionalität?
Francesco de Meo: Ich bin fest davon überzeugt, dass das im Gesundheitswesen der richtige Schritt ist. Sie müssen bedenken, in Deutschland sind es nicht nur fünf oder sechs Millionen, sondern 84 Millionen Bürgerinnen und Bürger, in 80 Regionen und mit komplett unterschiedlichen Verhältnissen. Wir haben Unterschiede zwischen Stadt und Land, die immer gravierender werden, zwischen Ost und West sowie Nord und Süd. Wir haben Länder und Regionen, da gibt es ganz viele alte Menschen und kaum noch junge. Da geht es eher darum, wie kann ich betreuen, wie kann ich pflegen, wie kann ich begleiten, damit diese Menschen möglichst lange gesund bleiben. Das heißt, der Bedarf dort ist ein anderer als in Gegenden, wo wir ganz viele junge Menschen haben und viele Familien mit Kindern. Dort braucht man zum Beispiel mehr Kinderbetreuung und mehr Kinderärzte. Das heißt, unser Land, das große Deutschland, ist komplett unterschiedlich, weshalb man das meines Erachtens nur lösen kann, wenn wir vor Ort die Themen punktgenau und praxisnah lösen.
Bedeutet das auch die Krankenhäuser dahingehend auszurichten?
Francesco de Meo: Ja, die Krankenhausstrukturen sollten darauf ausgerichtet werden, aber natürlich auch niedergelassene Ärzte. Das zweite Thema ist: Wenn man vom Bedarf her kommt, dann gibt es diese Sektorengrenzen nicht, die wir haben. Die sind ja künstlich.
Können Sie bitte kurz erklären, was genau hier mit Sektorengrenzen gemeint ist?
Francesco de Meo: Wir haben in Deutschland zwei grundsätzliche Sektoren, die unterschiedlich organisiert sind. Alles wird im Wesentlichen aus dem Topf der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt, wenn man es mal vereinfacht. Aber es wird eben unterschiedlich verteilt, mit unterschiedlichen Zugangsvoraussetzungen und Strukturen. Wenn ich im Sektor ambulanter Bereich bin und da behandelt werde, dann brauche ich so eine Art Passierschein, um in den stationären Bereich zu kommen, eine Überweisung oder Einweisung. Umgekehrt gehen viele zur Notaufnahme ins Krankenhaus, und wenn dort festgestellt wird, es ist gar kein Notfall, geht es wieder zurück in den ambulanten Bereich. Wir haben so eine Art Grenzverkehr zwischen ambulant und stationär. Und bei diesem Grenzverkehr verlieren wir sehr viel.
Glauben Sie, die Menschen haben größeres Vertrauen in Krankenhäuser?
Francesco de Meo: Wir sind ja in Deutschland so geschult, schon über Jahrzehnte, dass wir unsere Gesundheitsthemen im Wesentlichen abgeben. Wenn man nicht weiter weiß, dann geht man ins Krankenhaus. Deshalb ist es immer gut, wenn man ein Krankenhaus möglichst vor der eigenen Tür hat, dann fühlt man sich sicher beim Thema Gesundheit. Da kann man immer hin, notfalls mit dem Notarzt. Dieses Denken ist stark verwurzelt, gerade auch bei den älteren Menschen. Und im Osten sogar noch mehr, weil dort gab es ja die Poliklinik. Das heißt, wir haben schon so ein Bild, dass Krankenhäuser diese Institutionen sind, die unser Gesundheitswesen bestimmen und die uns retten, wenn es darauf ankommt.
Ist es Ihr Ansatz, diese Haltung aufzubrechen?
Francesco de Meo: Ja, natürlich, sie muss aufgebrochen werden, denn Sie können ein Gesundheitswesen ja nicht heilen, indem Sie sehr teure Strukturen wie das Krankenhaus, wo Sie viele Menschen zusammenbringen und ein hohes Maß an Medizintechnik auffahren, für Alltagsprobleme verwenden. Wenn Sie einen Schnupfen haben und aus Verzweiflung in die Notaufnahme eines Krankenhauses gehen, was häufig passiert in Deutschland, dann läuft irgendwas falsch. Das hat zum einen auch damit zu tun, dass die Menschen unsicher sind. Das heißt, man muss ihnen Sicherheit geben, dass es anders genauso gut geht oder sogar besser. Und zweitens wissen die meisten Menschen nicht so genau, was es bedeutet, so eine Struktur im Krankenhaus zu nutzen und zu beanspruchen. Wenn dort zum Beispiel Menschen vier, sechs oder acht Stunden in der Notaufnahme sitzen und dann gesagt bekommen, du hättest eigentlich gar nicht herkommen müssen, dann ist das zutiefst frustrierend für alle Beteiligten. So sind alle enttäuscht vom System, weil sie sich davon mehr erwarten. In Wahrheit ist es jedoch die Fehlsteuerung des Systems, die das produziert. Und diese kann man, glaube ich, ganz gut verändern, wie andere Länder gezeigt haben.
Wie denn?
Francesco de Meo: Wenn man regional vor Ort mit den Menschen spricht. Also vor Ort den Menschen zum Beispiel erklärt, dass dieses Krankenhaus in der Größenordnung nicht mehr gebraucht wird und dafür viel mehr ambulante Strukturen. Lasst uns doch Folgendes machen: Wir passen das Krankenhaus an und nehmen niedergelassene Ärzte hier auf, damit eine Anlaufstelle entsteht und die sich auch am Wochenende besser vertreten können. Das kann man den Menschen vor Ort erklären. Dort kennt man die Akteure, die Ärzte sprechen mit den Menschen. Man muss Vertrauen haben in die lokalen Akteure, Freiraum geben und dabei helfen.
Sie haben einen Einblick, wie Nachbarländer wie Spanien und Frankreich das handhaben, und scheinen ziemlich beeindruckt davon. Was fasziniert Sie daran? Was läuft wirklich besser dort?
Francesco de Meo: Die Systeme dort sind nicht perfekt. Aber sie sind so, dass sie aus meiner Sicht besser geeignet sind für bestimmte Fragestellungen, die wir hier in Deutschland auch haben, nämlich die Vernetzung von ambulanten und stationären Strukturen. Es gibt dort nicht diese Sektorentrennung, das ist das spannende. Sondern es gibt das, was wir in Deutschland auch zum Teil kannten, früher im Osten. Wir kennen es auch aus Belegarzt-Kliniken im Westen. Man hat den Arzt nah an der Klinikstruktur und hält damit eigentlich ein ambulantes Setting vor. In Spanien zum Beispiel, gehen Sie in ein Krankenhaus, und im Erdgeschoss ist gleich der gesamte ambulante Bereich. Hier wird entschieden, ob man die OP ambulant machen kann oder stationär machen muss. Die richtigen Notfälle werden gleich dorthin weitergegeben. Die Belegärzte stellen dann fest, ob noch mehr Untersuchungen nötig sind, dann kommt man eben in einen anderen Bereich für weitere Diagnosen. Bei diesem Setting produziert man viel weniger stationäre Fälle, weil die Beteiligten alle vernetzt aus einer Hand arbeiten und es nicht entscheidend ist, wer wie abrechnen darf. In Deutschland ist es so schwer, weil man diese Grenzen zwischen ambulant und stationär definiert hat und die Übergänge sehr technisch sind. Außerdem bekommt der stationäre Bereich bei einer Operation noch erheblich mehr Geld als der ambulante Bereich. Man muss dreimal so viel oder so schnell operieren im ambulanten Bereich, um das gleiche Geld zu bekommen für die gleiche Leistung. Aber es gibt Leistungen, die kann man grundsätzlich ambulant und stationär erbringen, und es ist eine rein technische, systemische Frage, wo ich die zuordne.
Aber möchte Karl Lauterbach nicht auch genau das aufbrechen?
Francesco de Meo: Karl Lauterbach kommt vom Krankenhaussektor her. Er möchte die Überkapazitäten im Krankenhausbereich bereinigen, weil das viel Geld kostet. Er möchte dabei Leistungen konzentrieren, so ähnlich wie das in Norwegen oder auch Dänemark geschehen ist. Man hat so bestimmte Zentren, an denen man die stationäre Infrastruktur misst. Das ist tatsächlich etwas, was kommen muss und was kommen wird. Die Überkapazitäten werden sukzessive einfach zur Gefahr, weil sie dazu führen, dass wir geringe Auslastungen haben in den Kliniken und die falschen Fälle am falschen Ort. Das ist alles nachvollziehbar. Aber was Karl Lauterbach nicht macht: Er vernetzt das Ganze gar nicht. Das heißt, er denkt jetzt nur vom Krankenhaus her und sagt, das machen wir die nächsten paar Jahre, dann gibt es weniger Kliniken und dann schauen wir weiter. Und das ist das Problem. Es hilft ja nicht, eine Reform anzustoßen, die allein auf Krankenhäuser fokussiert, ohne zu regeln, wie die Versorgung vor Ort regional vernetzt zukünftig aussehen soll. Wenn ich also nur Krankenhäuser habe und keine niedergelassenen Ärzte, dann muss ich sogar ein kleines Krankenhaus erhalten, das nach der Logik der Reform ja eigentlich verschwinden müsste. Ich muss es nur verändern. Mir fehlt bei der Karl-Lauterbach-Reform komplett diese Maßgabe, die Probleme vor Ort in einer dringend notwendigen Vernetzung zu lösen. Die Krankenhäuser können nicht dadurch neu aufgestellt werden, dass man generell in ganz Deutschland versucht, eine Zentralisierung herbeizuführen.
Können Sie Beispiele geben, wo solche Zentralisierungen scheitern würden?
Francesco de Meo: In Brandenburg zum Beispiel ist die Lauterbach-Reform gar nicht umsetzbar. Es gibt dort so viel Fläche und nur kleine Kliniken. Würde man die Reform dort so umsetzen, dann würden viele Kliniken wegfallen und die Menschen könnten nirgendwo mehr hin, weil es nicht genug niedergelassene Ärzte gibt. Ähnliches gilt für Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern. Und auch das Thema Zeit ist entscheidend. Wenn wir die grundsätzlichen Probleme nicht jetzt lösen, sondern mit einer Krankenhausreform anfangen, dann werden wir die Probleme die nächsten zehn Jahre immer noch nicht lösen. Und dann sind die Leute, um die es jetzt geht, zu einem Großteil gestorben. Jetzt werden die Baby-Boomer alt, jetzt ist die Zeit, in der die Neuausrichtung des ganzen Gesundheitssystems erfolgen muss. Wir haben nicht die Zeit, erst mit einem Sektor anzufangen, Überkapazitäten technisch zu bereinigen, und dann darüber nachzudenken, wie eine Vernetzung funktionieren könnte.
Wenn Sie Gesundheitsminister wären, was würden Sie direkt angehen?
Francesco de Meo: Ich würde zunächst mal davon absehen, mit einer Krankenhausreform zu beginnen. Stattdessen würde ich mich zügig mit den Ländern zusammensetzen und die Freiräume definieren, die Länder und die Regionen erhalten sollen, sowohl was die Strukturtransformation betrifft, als auch die Verbesserung der Versorgungsqualität. Dann würde ich Kriterien definieren, um das Ganze gut zu kontrollieren, und ansonsten darauf vertrauen, dass die lokalen Akteure die für sie richtigen Lösungen finden. Ich würde zudem mit der Selbstverwaltung sprechen, um gemeinsam darüber nachzudenken, wie ein solches regional auf die Beine gestelltes Versorgungskonzept konkret aussehen könnte. Die vernetzte Versorgung, damit die Menschen die Qualität bekommen, die sie brauchen. Dafür würde es erst einmal reichen, mit zehn der 300 Landkreise zu beginnen. Was wir daraus lernen, können wir dann auf andere übertragen.
Das ausführliche, komplette Interview können Sie lesen unter:
www.barbarabreitsprecher.de