Früher gab es den Spruch: „Mensch, du Hirni!“ Damit sollte zum Ausdruck gebracht werden, wenn ein Mensch sich wirklich sehr anstrengt, also hirnt ohne Ende, aber trotzdem nix begreift. Nun hat Olaf Scholz das Thema geschickt variiert. „Wenn ihr irgendeinen Verstand in euren Hirnen hättet“, schrie der sonst so leise Scholz einigen Schreihälsen sehr laut entgegen. Diese Variante des alten Spruchs hält es also für möglich, dass selbst die Doofen genug Hirn haben, um etwas zu begreifen. Sie bräuchten dazu nur Verstand. Aber der wiederum käme ja vom „Verstehen“. Und diesbezüglich hat die Ampel-Koalition unter der Führung von Kanzler Olaf Scholz offensichtlich ein Problem. Nicht nur die Schreihälse, sondern auch wohlwollende Zeitgenossen können einfach nicht verstehen, warum der leise Olaf so viel Zoff in seiner Regierung zulässt. Derweil ist die AfD laut Umfragen zur zweitstärksten Partei in Deutschland empor gestiegen, ohne auch nur irgendetwas zu tun.
Ein durchaus weiser grüner Zeitgenosse ist da zum Beispiel Winfried Kretschmann, der angesichts des Aufstiegs der AfD im jüngsten ARD-DeutschlandTrend (bei gleichzeitigem Absturz der Grünen und der SPD) dem Kanzler Scholz ein paar Tipps zum Regieren gab. „Wenn ich in meiner Koalition zuließe, dass wir uns derart öffentlich beharken, wie es die Berliner Koalition tut“, sagte Kretschmann zur „Zeit“, „dann würden wir das keine sechs Wochen aushalten.“
Aber ist das jetzt eine Rüge an den Kanzler, oder ein Kompliment für die Ampel, dass sie es trotzdem schon wesentlich länger als sechs Wochen zusammen aushält? Kretschmann regiert bekanntlich in Baden-Württemberg mit der Union als Juniorpartner. Dort ist es keine Kunst, ein „öffentliches Bekarken“ gar nicht erst zuzulassen, weil es ja kaum etwas zum Beharken gibt. Kretschmann ist ein Grüner, der vor lauter politischer Reife schon ganz schwarz geworden ist.
Dagegen ist ein Robert Habeck (natürlich auch Annalena Baerbock) in der Ampel noch von ganz anderem grünen Schrot und Korn. Und weil sie in der Ampel ständig auf die Leute von der FDP prallen, beispielsweise einem nicht völlig uneitlen Christian Lindner, findet ein quasi tägliches Beharken ums Bestellen aller Felder statt. FDP und Grüne sind idealtypische politische Gegner, die sich nicht aus Neigung, sondern aus Not (übrigens nicht zuletzt der Not der Sozialdemokraten) in der Ampelkoalition gefunden haben. Sie können ja gar nicht anders als sich gegenseitig auf die Nerven zu gehen, wobei die Koalition den Käfig für grüne und gelbgefleckte Raubtiere darstellt, in dem sie sich andauernd begegnen müssen. Im Vergleich dazu ist Kretschmanns Kabinett ein veritabler Streichelzoo. Möglicherweise haben außerdem der Winfried Kretschmann und der Christian Lindner sogar mehr Gemeinsamkeiten als die Ampel im Bund. Sprich: Porsche spitze finden!
Die Rollenfindung des SPD-Kanzlers
Nun ja, der Olaf Scholz hat dann ebenfalls der „Zeit“ erörtert, dass er selbst mit dem Verhalten seiner Koalitionäre auch nicht ganz zufrieden ist. Er fragte: „Könnten die das nicht alles ein bisschen leiser vortragen?“ Gemeint sind die Partner in seiner Ampel-Regierung. Anlass ist der Heizungsstreit, die andauernde Diskussion um die Wärmewende in Deutschland, bei der vor allem die Grünen und die FDP im Clinch miteinander liegen. Scholz ergänzte: „Ich denke oft, das ginge leiser.“
Nicht unbedingt den lautstarken, aber dann doch mindestens den meinungsstarken Kanzler vermisst mancher Kritiker inmitten all der Ampel-Streitigkeiten wie etwa beim Heizungsgesetz. Doch Scholz zeigt sich unbeirrt. „Alle haben immer ein bisschen Recht“, sagte er. Und das ist ja eben jene salomonische Formel,mit der sich kein Staat machen lässt. Wenn nämlich alle „ein bisschen recht“ haben, dann sind ja auch alle ein bisschen im Unrecht. Und wenn das so ist, dann schwupps ist doch schon wieder die Frage da, warum das nicht der Kanzler an sich reißt. Denn wenn man die Äußerungen von Scholz, dass „alle ein bisschen recht“ haben mal auf seine eigene Rolle hin liest, dann scheint er hier das Bild des gütigen Herrschers zu bemühen, der all den lieben Kleinen ihr bisschen Recht gibt, um sie schließlich weise zu jenem Ergebnis zu führen, das ihm selbst vorschwebt. Aber Moment mal! Ist der Scholz jetzt der Kretschmann, oder wie? Und wissen das außerdem der Habeck und der Lindner auch? Geschweige denn der Kubicki oder der Merz.
Wenn Olaf Scholz nicht müde wird, den Verstand in seinem Hirn zu betonen, heißt das jedenfalls nicht, dass seine SPD derzeit viel Zustimmung findet. Sie liegt höchstens noch gleich auf mit der AfD. Aber der Kanzler ist überzeugt davon, dass „gute Arbeit“ der Ampel dies wieder korrigieren wird. Und ja, noch hat er Zeit dafür.
Warum der leise Scholz so laut schreit
Es fällt natürlich auf, wenn der Kanzler mal aus sich herausgeht und richtig laut schreit,. Dies ist jüngst geschehen, als Scholz im brandenburgischen Falkensee bei einem „Europafest“ der SPD erschien. Eine Gruppe von Störern rief ihm unter anderem „Kriegstreiber“, „Frieden schaffen ohne Waffen“, „Hau ab!“ und „Wir sind das Volk!“ entgegen. Offensichtlich nahmen die Protestierenden Anstoß an der Politik des Kanzlers, die Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen die russische Armee mit Waffenlieferungen zu unterstützen.
„Liebe Schreihälse“ rief Scholz zurück. „Kriegstreiber ist Putin. Er ist mit 200 000 Soldaten in die Ukraine einmarschiert“. Putin wolle die Ukraine zerstören, und er habe noch andere im Blick, sagte Scholz, während das Publikum aus den ersten Reihen Worte wie „Lügner“ entgegen schleuderte. Scholz, der nach Art von Rockstars Mikro und Halterung mit beiden Händen umklammerte, hielt dagegen. Während die Kriegsgegner „Frieden schaffen ohne Waffen“ riefen, habe Putin „unglaublich viele Panzer zusammengezogen, Raketen, Marschflugkörper und hat sie auf die Ukraine gerichtet“. Und er habe unglaublich viele Bürgerinnen und Bürger, Kinder und Alte in der Ukraine getötet. „Das ist Mord, um es klar zu sagen.“ Für seinen imperialistischen Traum riskiere Putin auch das Leben seiner eigenen Bürgerinnen und Bürger. Man wisse nicht, wie viele russische Soldaten schon gestorben seien, aber es könnten 100 000 bis 150 000 sein. „Wie kann man so mit dem Leben der eigenen jungen Leute umgehen“, rief der Kanzler in den Tumult hinein – „nur weil man ein großer Mann sein will? Das ist unverantwortlich, das ist Kriegstreiberei.“
SPD-Strategen möchten den Klartext-Kanzler daraus machen
„Ich weiß nicht, ob das ein Wutausbruch war“, sagt ein Regierungssprecher. Es sei eine „laute Antwort“ auf laute Demonstranten gewesen. Der Bundeskanzler habe Klartext gesprochen und das sei sein gutes Recht. Die SPD-Fraktion wirbt ebenfalls via Twitter mit diesem „Klartext-Kanzler“.
Aber nun ja, jenseits solcher seltenen Schreihals-Situationen wünschten sich viele Leute, dass bei all den schwierigen Reformvorhaben der Ampel halt auch klar formuliert wird. Während sich vor allem Grüne und FDP lautstark zanken, wächst nämlich die Verunsicherung. Wissen die, was sie tun? Hat der Kanzler das im Griff? Die Union, die in den letzten 16 Jahren wenig für die Zukunft tat und auch derzeit kein überzeugendes Konzept vorlegt, ist mit 29 Prozent deutlich stärkste Partei. Die AfD als Protestpartei gleich dahinter, ungefähr mit der Kanzlerpartei SPD gleich auf. Um Klartext zu sprechen: Da läuft etwas gewaltig schief!