Wenn alle einfach nur umfallen, hat das keinen Sinn

Die AfD hat recht mit ihrer Behauptung, dass alle demokratischen Parteien in Deutschland in der Migrations-Politik die AfD-Positionen übernommen haben. Ein katastrophaler Fehler.

Das ganze Land scheint nur noch über Themen zu reden, die von der AfD gesetzt wurden. Plötzlich scheinen alle Probleme in Deutschland auf die Migration geschoben zu werden. Fotomontage: Adrian Kempf

Es ist wie mit den Domino-Steinen: Alle fallen um. Wie die Politik derzeit mit dem Thema Migration umgeht, basiert auf einer Vielzahl von falschen Behauptungen und wird am Ende schlecht für Deutschland sein. Denn oft ist genau das Gegenteil von dem wahr, was behauptet wird. Es wundert nicht, dass die AfD sich das Thema Migration für ihre Hetze schon früh ausgesucht hat. Dann folgte Friedrich Merz und seine Union, die das Thema Migration offenbar zentral in den Bundestagswahlkampf 2025 stellen wollen, um möglichst viele Stimmen für Merz als künftigen Kanzler zu bekommen. Und schließlich reagierte auch die Ampel-Regierung, also SPD, Grüne und FDP, indem sie eilig neue Beschlüsse wie Kontrollen an allen deutschen Grenzen in die Tat umsetzen ließen. Die AfD hat recht mit ihrer Behauptung, die demokratischen Parteien hätten nun alle die AfD-Positionen übernommen. Denn das Signal, das von allen Parteien mit Worten und Handeln ausgeht, heißt: Abschottung, Zurückweisung! Und das ist genau das Gegenteil dessen, was Deutschland braucht. Es wird schon mittelfristig katastrophale soziale, politische, rechtliche und wirtschaftliche Konsequenzen für Deutschland und Europa haben.  

 
Es ist natürlich richtig, dass der Staat alles dafür tun sollte, um Anschläge wie in Solingen zu verhindern. Bessere Maßnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus und Gewalt, insbesondere von Islamisten und ausländischen Straftätern, sind zweifelsohne geboten. Wenn aber, wie zuletzt mit Dominoeffekt geschehen, der Anschein erweckt wird, dass Migration die Quelle allen Übels sei,  und wenn dadurch Geflüchtete und Menschen aus dem Ausland pauschal abgelehnt werden, ist das falsch, schädlich und verhängnisvoll. Und man muss sich schon fragen, warum alle Parteien wider besseren Wissens diesen Diskurs mittragen. Geht es denen jetzt echt nur noch um Stimmen bei der Bundestagswahl? Glauben denn Union, FDP, aber auch SPD und Grüne wirklich, dass sie mit der eiligen Übernahme des Wahlkampfthemas Migration die Erfolge der AfD und auch des BSW beschneiden können? Es wird eher das Gegenteil der Fall sein.

Was eine Politik der Abschottung bewirkt

Viel schlimmer ist aber, dass die Politik der Abschottung dem Land extrem schaden wird. Und hier muss man besonders die aktuelle Regierung kritisieren, weil sie derzeit faktisch eine falsche Politik verantwortet (während AfD und Merz ja keine Regierungsgewalt haben, also „nur“ reden). Die momentan in kurzer Folge von der Ampel  getroffenen Entscheidungen dürften sich womöglich als das größte Versagen der Bundesregierung erweisen. Denn das Stopp-Signal, das von diesem Regierungshandeln ausgeht, könnte ja tatsächlich bei denen ankommen, die sonst nach Deutschland gekommen wären. Und es dann nicht mehr wollen.  

„Fast 30 Prozent der Menschen hierzulande haben ausländische Wurzeln, sind also selbst zugewandert oder sind die Kinder von Zugewanderten. Der zukünftige Wohlstand wird noch sehr viel stärker davon abhängen, ob Deutschland attraktiv für Zuwanderung ist und ob ausreichend Arbeitskräfte kommen wollen. Ohne Menschen aus dem Ausland wird in den kommenden 15 Jahren wohl ein erheblicher Teil vor allem kleiner und mittlerer Unternehmen in Deutschland pleitegehen, weil sie schlichtweg keine Beschäftigten mehr finden können“, schreibt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, in einer (sehr lesenswerten) Kolumne in  der ZEIT.

Nun ja, wer mit offenen Augen durch die Straßen in einer Stadt in Deutschland geht, kann kaum übersehen, dass heute schon auf nahezu jedem Fahrzeug von Handwerksbetrieben fett ein Aufkleber prangt: „Mitarbeiter gesucht.“ 

Schon 2023 blieb jede dritte angebotene Ausbildungsstelle unbesetzt, so viele wie noch nie. Längst ist der Fachkräftemangel auch ein Mangel an Auszubildenden. Wegen des demografischen Wandels rücken weniger Junge aus den Schulen nach, als Ältere in Rente gehen. Und die, die da sind, studieren oft lieber. Gab es Ende der Achtzigerjahre noch gleich viele Auszubildende und Studierende in Deutschland, standen 2021 nur noch etwas mehr als vier Auszubildende zehn Studierenden gegenüber. Die Folge: Es fehlen Fachkräfte, die im Restaurant das Essen kochen, die im Hotel an der Rezeption stehen, die das kaputte Dach reparieren und die Kranken pflegen. Besonders die kleineren Betriebe haben Probleme, junge Leute zu finden. Laut dem IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) können 57 Prozent der Betriebe mit weniger als zehn Beschäftigten ihre Ausbildungsplätze nicht besetzen.

Das alles ist bereits heute der Fall. Wie das „Institut der Deutschen Wirtschaft“ in einer im September veröffentlichten Studie schreibt,  plädieren die Forscher dieses arbeitgebernahen Instituts dafür, Ausbildungsberufe besser zu bewerben und vor allem ausländische Fachkräfte zu rekrutieren. Ansonsten verschwinden viele Betriebe, weil sie keinen Nachwuchs finden, heißt es in der Studie.

Also Problem erkannt, Problem gebannt? Leider scheint das Gegenteil in der politischen Debatte der Fall zu sein. „Manche Politiker und Politikerinnen und Lobbyorganisationen überbieten sich mit Forderungen, wie Abschiebungen in großem Stil stattfinden sollten oder wie man Menschen in Zukunft davon abhalten könne, nach Deutschland zu kommen. Angriffe wie der in Solingen befeuern die Debatte immer wieder. Natürlich ist die Frage der Steuerung wichtig. Aber eine ehrliche Analyse zeigt, dass sie nur begrenzt möglich ist. Viel sinnvoller ist die Frage, wie die 3,2 Millionen Schutzsuchenden schneller und besser in Arbeitsmarkt und Gesellschaft integriert werden können. Die Verantwortlichen in der Politik sollten ihren Erfolg in der Migrationspolitik nicht daran messen, wie viele Menschen sie abschieben, sondern wie gut und schnell die Integration der neu Angekommenen in Deutschland erfolgt“, schreibt  Marcel Fratzscher in der ZEIT. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung geht von der Realität aus und schreibt weiter: „Der Mangel an Arbeitskräften mit geringen und mittleren Qualifikationen ist heute so riesig, dass die deutsche Wirtschaft sehr gut alle 3,2 Millionen Schutzsuchenden in Deutschland in Arbeit bringen könnte.“

Wie die Politik den falschen Diskurs führt

Kanzler Olaf Scholz hat sich ja nach dem Anschlag von Solingen und den Wahlen in Thüringen und Sachsen nicht entblödet, seine eigenen Verdienste in der Migrationspolitik hervor zu heben, indem er behauptete, dass unter ihm mehr restriktive Maßnahmen umgesetzt worden seien als in den Jahrzehnten zuvor (in denen Scholz nebenbei bemerkt der Vizekanzler von Angela Merkel war und die damalige Kanzlerin in ihrem offenen Kurs sogar ausdrücklich unterstützte.) Und jetzt gibt Scholz plötzlich den harten Hund, ohne Sinn und Verstand.

„Die Kürzungen von Leistungen und die Erhöhung der Hürden, so wie sie nun von der Politik umgesetzt werden, sind kontraproduktiv: Sie werden die Misserfolge vervielfachen und die Integration erschweren, die Anzahl der Fachkräfte reduzieren und den deutschen Staat langfristig sehr viel mehr Geld kosten. Eine schnellere und bessere Anerkennung von Qualifikationen, weniger Bürokratie und regulatorische Hürden, bessere Unterstützung für Unternehmen und für Kommunen und deutlich mehr Bemühungen bei der Betreuung der Kinder sind nur einige Beispiele, wo die wirklichen Lösungen vieler Probleme liegen“, schreibt Marcel Fratzscher dazu, der halt als Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung einen wissenschaftlichen Blick auf die Dinge hat.

Kommen wir nochmal auf das Domino-Spiel zurück. Die Grundregel der Dominospiele besteht darin, abwechselnd Steine mit Feldern gleicher Augenzahl aneinanderzufügen. Wer zuerst alle Steine angelegt hat, ist Sieger. Man könnte sagen, dass es ein konstruktives Spiel ist und das Umstoßen der Steine im Dominoeffekt nicht der Spielzweck war. Wie es auch nicht Sinn der Politik ist, einfach nur umzufallen.