Vom Kleinen ins Große, von Scholz bis Merz

Nach dem Wahlsieg von Dietmar Woidke für die SPD in Brandenburg träumt der Kanzler davon, dies auch im Bundestagswahlkampf 2025 zu erreichen. Er findet sich großartig.

Ist der Kanzler-Job für Olaf Scholz ein paar Schuhnummern zu groß? Das behauptet Friedrich Merz, der noch nie ein Regierungsamt ausübte. Fotomontage: Adrian Kempf

Man lernt schon in der Schule: Immer auf die Kleinen, das geht ja gar nicht. Wenn also Friedrich Merz, der erklärte Kanzlerkandidat der Union für den Wahlkampf 2025 mal im Bundestag erklärte, dass der Job des Bundeskanzlers für Olaf Scholz „mindestens zwei Schuhnummern zu groß“ sei, dann ist das natürlich mies. Merz ist ja ein Hüne von 1 Meter 98 Höhe, während es der kleine Kanzler  Scholz nur auf 1 Meter 70 bringt. Und nun hat auch noch ein anderer Riese den Kanzler klein aussehen lassen: Dietmar Woidke, der Wahlsieger der SPD von Brandenburg, ist 1 Meter 96 groß. Und Spaß beiseite:  Mitunter kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Olaf Scholz sich umso größer findet, je kleiner seine SPD und auch er selbst in den Umfragen werden. 

 
Die 13,9-Prozent-Partei SPD stand bei der Wahl in Brandenburg plötzlich bei 30,9 – ein Ergebnis, das Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke mit viel Entschlossenheit sowie mit der brachialen Ansage „die AfD oder ich“ zustande bekam. Dieses Ultimatum hat Woidke viele Stimmen eingebracht, vor allem von Nichtwählern. Und es basierte darauf, dass Dietmar Woidke in Brandenburg eine Institution ist. Laut  Infratest dimap hieß es in der Analyse: „Jeder zweite SPD-Wähler gab an, sich wegen seiner Person für die Sozialdemokraten entschieden zu haben.“ Und unbestritten ist auch, dass Woidke vor seinem Wahlsieg eine maximale Abgrenzungsstrategie gegen Kanzler und Ampel wählte. „Bleibt mir bloß vom Leib in diesem Wahlkampf“, war Woidkes Botschaft an Scholz und die Genossen, und verderbt mir nicht meine Chancen. Woidkes Erfolg ist trotz Scholz und seiner Ampel zustande gekommen, nicht wegen Scholz und seiner Ampel. Der Brandenburger hat den Kanzler im Wahlkampf behandelt wie einen Verwandten, den man lieber nicht zur Familienfeier einlädt. Selbst jene, die in Brandenburg SPD gewählt haben, monieren zu viel Streit in der Ampel sowie eine grassierende Führungsschwäche beim Kanzler. Sie haben die SPD vor allem gestärkt, um einen Sieg der AfD zu verhindern.  Dies zeigt vor allem: Wenn starke Amtsinhaber, wie Dietmar Woidke in Brandenburg oder Michael Kretschmer in Sachsen, alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wenn sie Bodenständigkeit, Nähe und im besten Fall wirtschaftlichen Erfolg verkörpern und damit die oft verhasste Ampel-Regierung im Bund überstrahlen, können sie die AfD schlagen. Was übrigens auch zu dem Problem führt, dass der Sieg von Woidke andere demokratische Parteien geschwächt hat: Geschadet hat es der CDU, die ein historisch schlechtes Ergebnis verzeichnet; das Label Volkspartei kann sie in Brandenburg vorerst vergessen. Geschadet hat Woidke auch den Grünen. In den vergangenen fünf Jahren Partner in der Kenia-Koalition mit SPD und CDU, haben die Grünen es nicht mehr in den Landtag geschafft.

Und was macht Olaf Scholz daraus?

Olaf Scholz machte mal wieder den Eindruck, dass alles für ihn liefe. Weit weg in New York, beim Zukunftsgipfel der Vereinten Nationen, wurde er von Reportern abgefangen. Wie er das Wahlergebnis finde, wurde er gefragt. Scholz grinste. „Ist doch super, dass wir gewonnen haben“, sagte er. Der Kanzler zeigte sich bestens aufgelegt. Und er ließ erkennen, wie er das Brandenburger Resultat wertete: als Punkt für sich. Und dies obwohl Woidke ihn, Scholz, den Wahl-Brandenburger, gemieden hat. In typisch Scholzer Manier vermittelt er, dass es auf längere Sicht seiner Meinung gar nicht darauf ankäme. Für die Lehre aus Brandenburg hält er, dass es möglich ist, im Wahlkampf in sehr kurzer Zeit sehr viel Boden gut zu machen.

Olaf Scholz sagte also: „Ich werde mit meiner Partei das wiederholen wollen, was jetzt in Brandenburg gelungen ist und was vor der letzten Bundestagswahl auch gelungen ist, dass die SPD als stärkste Partei das Rennen macht und dass wir alles dafür tun, dass die rechten Populisten in unserem Land keine Chance haben.“ Und weiter: „Es ist wichtig, geschlossen zu bleiben und fokussiert“, fügte er hinzu, und dass es sich lohne zu kämpfen. Zweifel, dass er der richtige Kandidat ist? Keine. Denn er fühlt sich groß. Man könnte sagen: Er glaubt, dass allein seine Größe das Kleine der SPD ausgleichen könne.

Was Scholz „Geschlossenheit“ nennt, das meint, dass sich seine Partei hinter ihm versammelt. Nur dass diese Partei seit dem Sieg in der Bundestagswahl 2021 sich im stetigen Sinkflug befindet. Wobei die Beliebtheitswerte von Olaf Scholz selbst ebenfalls in Richtung unterirdisch gehen. Und der zermürbende öffentliche Streit in der Ampel-Regierung wird vermutlich nicht mehr aufhören, zumal die FDP in den Landtagswahlen marginalisiert wurde (siehe Seite 7) und weit hinter der Tierschutzpartei landete. Auch für die Grünen scheint das Joch der Regierung unter Kanzler Scholz nahezu stündlich stärker auf den Schultern zu lasten (Siehe Seite 11).

Zwar versuchen die Kanzlergetreuen aus der Geschichte von erfolgreichen Aufholjagden (Scholz 2021, Woidke 2024) mal eben frische Erfolgschancen für Scholz 2025 abzuleiten. Dem Kanzler selbst scheint ebenfalls ein Wahlkampf nach Art von Woidke vorzuschweben: Ein personalisierter Wettbewerb, in dem er mit „Charakter“ gegen seinen Unionsrivalen Friedrich Merz antritt (Geheimbotschaft: Merz ist charakterlos) und auf bürgernahe Themen wie Mindestlohn und Rente setzt. Kleine Klammer: In der Tat hat sich Olaf Scholz im direkten verbalen Infight mit Friedrich Merz in diversen Debatten im Bundestag noch am ehesten sprachgewaltig und amüsant gezeigt. Es ist, als müsste man ihn erst reizen, bevor er auch mal Kante zeigt. Die bekannten Highlights waren diesbezüglich, dass Scholz den Merz als „Mimose“ bezeichnete. Er attestierte Merz auch eine „Hasenfüßigkeit“ und dass der sich „in die Büsche schlagen“ würde, wenn es mal drauf ankommt. Sein Bonmot gegen Merz: „Wer boxt, der sollte kein Glaskinn haben.“

Ist die SPD schon entschieden hinter Scholz?

In Berlin betonten zwar Lars Klingbeil und Dietmar Woidke auf dem Podium, dass Scholz als Kandidat gesetzt sei. Das Präsidium, alle Ministerpräsidenten seien dafür, sagte Klingbeil. „Da gibt es gar kein Wackeln.“ Warum nominiere die Partei ihn dann nicht jetzt schon offiziell als Kanzlerkandidaten , sondern plane das erst im Juni 2025, wurde Klingbeil gefragt. Er wich dieser Frage aus.

Denn es wird dem Kanzler schwerfallen, den Woidke zu machen. Scholz ist unbeliebt; selbst von Parteifreunden wird er hinterfragt. Sofern ihm nicht eine spektakuläre Persönlichkeitswandlung gelingt, vom arroganten Schweiger zum empathischen Versteher wird er sich auch nicht als bodenständiger Landesvater vom Typ Woidke neu erfinden können. Und es ist ja so: Scholz hat dann bald vier Jahre hinter sich, in denen er nicht bewies, dass er eine Regierung mit Führungsstärke zum Erfolg lenken kann. 

Deshalb klingt auch das Statement von Klingbeil als SPD-Chef nach dem Wahlsieg von Woidke in Brandenburg so ein bisschen unklar.  Die Hoffnung ist, dass ein neues Momentum kommt, von irgendwoher. Vor allem erwarten viele in der SPD, dass Scholz gegen die FDP mehr ins Risiko geht. Aber da hat Scholz nur wenig Spielraum: Wollte er jetzt Führungsstärke beweisen und die ganze Autorität eines Koalitionschefs ausspielen, dürfte das Zweckbündnis Ampel alsbald auseinanderfallen – schließlich sind Grüne und FDP noch stärker gebeutelt im Osten als die SPD und dort quasi nicht mehr existent. Besonders für die Liberalen hat sich die Ampelmitgliedschaft von der Sinn- zur Existenzfrage ausgewachsen.

Dies alles wird aber von den Wählern eher als Schwäche von Olaf Scholz wahrgenommen werden (obwohl das so eigentlich nicht stimmt und es in Zukunft noch etliche Bündnisse geben wird, auf Landes- sowie auf Bundesebene, die nicht einfach zu managen sein werden). Es gibt aber auch schon Stimmen, die fordern, die SPD  sollte statt mit Olaf Scholz mit Boris Pistorius als Kanzlerkandidaten in die Bundestagswahl ziehen. Dessen Körpergröße von 1 Meter 81 ist irgendwie normal. Das ist sein Trumpf.