Der Auftritt der Regierungshelden war bis ins Detail inszeniert. In breiter Reihe schritten die glorreichen Neun auf die Fotografen zu, fast ein bisschen in Zeitlupe, wie es sich vor einem Showdown gehört. Und selbst die Anordnung, wer wo in dieser Reihe ging, war keinesfalls dem Zufall geschuldet. Von links nach rechts: Michael Kellner (Grüne), Norbert-Walter Borjans (SPD), Annalena Baerbock und Robert Habeck (Grüne),Olaf Scholz (SPD), Christian Lindner und Volker Wissing (FDP), Saskia Esken und Lars Klingbeil (SPD). Mit dem Kanzlermann in der Mitte, mit den beiden Grünen-Chefs rechts von sich und dem FDP-Chef Lindner links von sich wurde sozusagen das neue Machtzentrum abgebildet, halt an den Rändern ergänzt durch andere Leute, die mal vielleicht noch brauchen kann, wie etwa die kommenden SPD-Chefs Esken und Klingbeil. Hübsch gemacht, aber ab jetzt droht die Realität.
Man schrieb den 24. November 2021, als die „Ampel“ ihren Koalitionsvertrag vorstellte. Nach der bildlichen Inszenierung ging es auch mit den Wortmeldungen ungeheuer aufbruchsmäßig zu. Olaf Scholz sagte erwartbar, die Ampel sei „eine Koalition auf Augenhöhe, mit drei Partnern, die ihre Stärken einbringen zum Wohle unseres Landes.“ Klang natürlich voll kanzlermäßig, wo es doch auch Zeitgenossen gibt, die sich nicht so sicher sind, ob die drei Partner womöglich auch ihre Schwächen mit einbringen in diese neue Regierung, die erstmals in Deutschland aus drei Parteien gebildet wird. Ein paar Tage später hat beispielsweise Kevin Kühnert, Vizechef beim der SPD, gegen die FDP ausgeteilt.
Bei der Präsentation ihrer Absichten sollte das Bild einer Gemeinschaft entstehen, die ganz neue Kräfte entwickeln könne. So sagte Robert Habeck über den Koalitionsvertrag, er sei „ein Dokument des Mutes und der Zuversicht.“ Na ja, das stimmte wohl die Grünen auf die dann folgende Urabstimmung ein, die teilweise wirklich viel Mut und Zuversicht von den Mitgliedern erforderte. Annalena Baerbock erklärte (als künftige Außenministerin), man habe sich auf eine aktive und wertegeleitete Außenpolitik verständigt. Sprich: bewaffnete Drohnen.
Christian Lindner, der ganz offensichtlich heimliche Gewinner des Koalitionsvertrags, sprach von einem gemeinsamen „Auftrag, dieses Land zu modernisieren.“ Dabei erwähnte er „die junge Generation“ (weil diese ja oft FDP gewählt hatte). Da Lindner sich als neuer Finanzminister durchgesetzt hat, sagte er süffisant, Deutschland bleibe „Anwalt solider Finanzen.“ Hätte er gleich sagen können, dass dieser Anwalt Lindner heißt und die FDP die Finanzen bestimmen werde. In diesem Lichte war Lindners kleiner Liebesgruß an seinen Vorgänger als Finanzminister und den künftigen Kanzler Olaf Scholz zu verstehen. Man habe Olaf Scholz bei den Koalitionsverhandlungen „als starke Führungspersönlichkeit“ erlebt. Scholz könne auch Menschen repräsentieren, die nicht die SPD gewählt hätten, und werde „ein starker Kanzler“ sein, sagte Lindner.
Was heißt hier „Fortschritt“?
Der Koalitionsvertrag umfasst 177 Seiten und trägt den Titel: „Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit.“ Nimmt man die Leitsprüche des Wahlkampfes hier zum Maßstab, so kommt nach dem Wort „Bündnis“ zuerst das FDP-Motto, dann das der SPD und schließlich das Ding, für das die Grünen stehen sollen. Die Nachhaltigkeit als fünftes Rad am Wagen. Apropos: Freiheit für freie Fahrer auf deutschen Autobahnen geht vor, gell?
Vor allem aber ist es die Headline: „Mehr Fortschritt wagen“, die quasi wie ein Kitt in dieser Koalition wirkt. Na klar, soll das zunächst einmal heißen, dass es in den letzten 16 Jahren unter der Führung von Merkel und der Union nur Stillstand gegeben habe. Das schweißt die neue Ampel zusammen. Joa, aber wo war eigentlich die SPD in den letzten Jahren des Stillstands? Hat nicht Olaf Scholz gerade darauf seinen Wahlkampf gebaut, dass er als Vizekanzler mit allen Wassern des Regierens gewaschen ist?
Nun gut, mal von der kleinen Keule für die Stillstands-Union abgesehen, hat aber der Begriff „Fortschritt“ ausreichend Platz für alle möglichen Interpretationen. Es ist kein stringenter Begriff. Die SPD hält vielleicht etwas ganz anderes für fortschrittlich als die FDP oder die Grünen. In früheren Jahren hat ja auch die CDU den Begriff „Fortschritt“, kombiniert mit „Stabilität“ als Wahlwerbung benutzt. Das hieße übersetzt quasi: Fortschritt beruhte auf der Stabilität der Braunkohle. Wie ja der „Fortschritt“ schon immer auch in der Kunst der deutschen Autobauer bestand, tolle Schlitten zu bauen. Ist es jetzt im neuen Vertrag ein Fortschritt, wenn der Diesel auch weiterhin mit Steuergeldern subventioniert wird? Es stellt sich daher die Frage: Fortschritt bei was? Fortschritt für wen? Ein typisches Beispiel dafür, wie vage Ziele zum Problem werden können, war die erste gemeinsame Gesetzesinitiative der Ampel, die mit ihrer Mehrheit im Bundestag ja ein neues Infektionsschutzgesetz durchgedrückt hat. Damit sollte ein neuerliches Lockdown im Land ausgeschlossen werden. Ein Fortschritt oder ein FDP-Wunschgedanke? Fortgeschritten ist in der Folge davon lediglich die Corona-Pandemie, die ohne Rücksicht auf politische Floskeln das Land an den Rand des Triage-Abgrunds bringt.
Was heißt hier „Vertrag“?
Der Koalitionsvertrag, der nun erstmals in der Bundesrepublik zwischen drei Parteien geschlossen wurde, beruht eher auf Vertrauen denn auf juristischer Einklagbarkeit. Er ist eine gigantische Willenserklärung, die einerseits für die jeweils beteiligten Parteien und deren Anhänger gedacht ist, aber andererseits auch den Willen der Parteien dokumentiert, wie sie es miteinander probieren wollen. Im Laufe der Zeit wird sich zeigen, ob und welche Partei sich ständig auf den „Vertrag“ berufen muss, der doch geschlossen worden ist. Denn diese Partei ist dann diejenige, die politisch verloren haben wird. Im Idealfall schaffen es die Koalitionäre tatsächlich, weiter einen Politikstil miteinander zu entwickeln, der es überflüssig macht, sich auf den „Vertrag“ zu berufen. Und ja, die Art und Weise wie die Ampel überhaupt entstanden ist, war ungewöhnlich stilvoll, auch jenseits der inszenierten Bilder. Trotz schwieriger Ausgangslage gab es kein Polit-Theater, wie es bei der Union zuletzt immer der Fall war. Es könnte sein, dass sich da tatsächlich gegenseitiges Vertrauen gebildet hat, das dann in schwierigen Phasen die Koalition trägt.
Was steht im Koalitionsvertrag drin?
Im Wesentlichen haben alle drei Parteien ein paar Kernversprechen an ihre Wähler realisiert. Der Mindestlohn wird auf zwölf Euro angehoben (SPD), pro Jahr sollen 400.000 neue Wohnungen gebaut werden (SPD/Grüne), eine Rentenkürzung oder eine Anhebung des gesetzlichen Eintrittsalters soll es nicht geben (SPD/FDP), Steuererhöhungen soll es nicht geben (FDP), die Schuldenbremse behält ihre Gültigkeit (FDP), bis 2030 sollen 80 Prozent des deutschen Stroms aus grünen Quellen kommen (Grüne), bis 2030 sollen mindestens 15 Millionen vollelektrische Autos in Deutschland zugelassen sein (Grüne). Darüber hinaus soll es eine neues „Bürgergeld“ (statt Hartz IV) geben sowie eine Grundischerung für Kinder. Es soll eine Asyl- und Migrationswende geben, sowie Neuerungen in der Integrations- und Staatsbürgerschaftspolitik, Verbesserungen im Adoptionsrecht, die Legalisierung von Cannabis, die Streichung des Paragrafen 219a des Strafgesetzbuches zur Entkriminalisierung der Abtreibung, sowie die Senkung des allgemeinen Wahlalters auf 16 Jahre. Viele gute Vorhaben.
Was steht zuerst an?
Alle Vorhaben der neuen Ampel-Regierung stehen unter dem Vorbehalt, dass Deutschland der Gesundheitskatastrophe durch die Corona- Pandemie entgeht. Nachdem jedoch die Lage so schlimm ist wie noch nie und darüber hinaus auch noch die ansteckendere Omikron-Variante in Europa und auch in Deutschland angekommen ist, steht der erste Stresstest der Ampel im Raum, noch bevor Olaf Scholz überhaupt zum Kanzler gewählt ist. Die FDP will partout keinen Lockdown, das war ja eines ihrer Kernversprechen. Tja, das wird eine harte Prüfung. Für die Ampel, für uns alle.