
Es könnte sein, dass Olaf Scholz sein Glück kaum fassen kann. Denn sein aussichtsreichster Konkurrent um das Amt des Kanzlers hat soeben ohne Not ein Thema aufgemacht, das Scholz und seine Genossen dringend brauchten: Tabubruch bezüglich der Brandmauer gegen rechts! Seit Friedrich Merz mit Hilfe der AfD seinen Fünf-Punkte-Plan gegen illegale Einwanderung im Bundestag durchgesetzt hat, ist die Lage eine andere, spannendere geworden. Denn Friedrich Merz hat der SPD und Scholz das geschenkt, was ihr am meisten gefehlt hat: ein Thema, das zumindest die eigenen Anhänger und potenziellen Wählerinnen und Wähler mobilisiert. Die Angst, dass Friedrich Merz das Land durch sein Agieren im Bundestag tatsächlich auf eine Rutschbahn gelenkt hat, die zu rechtsradikaler Regierungsbeteiligung führen könnte, bewegt viele, die über die Abstimmung im Bundestag entsetzt sind und diese für einen historischen Fehler halten. Diese Menschen spricht Scholz an. Bei ihm ergänzen sich nun ehrliche Empörung und taktisches Kalkül – für einen Wahlkämpfer eine Mischung mit Potenzial.
Und Scholz hat bei seiner Regierungserklärung im Bundestag eine gute stringente Rede gehalten (was bei ihm ja nicht immer der Fall ist). Grob gesagt zerfällt seine Rede in drei Teile. Da ist zum einen sein Zorn über die Terrortaten der vergangenen Monate. „Mir reicht es. Auch ich sage: Es reicht!“ Im zweiten Teil zählt Scholz dann auf, was seine Regierung getan habe, um die irreguläre Migration zu begrenzen. Von gestrafften Asylverfahren, Grenzkontrollen an allen Binnengrenzen und längerer Abschiebehaft spricht Scholz. Teil drei ist dann dem Angriff gewidmet. Scholz hält Merz geplanten Rechtsbruch vor wegen dessen Ankündigung, die deutschen Grenzen für Asylbewerber zu schließen. Und Wortbruch, weil er mit der AfD gemeinsame Sache machen wolle. Menschlichkeit und Gerechtigkeit seien außerdem ja auch „Versprechen unserer demokratischen Verfassung“. Das Recht auf Asyl sei die „unmittelbare Antwort auch auf das Grauen der NS-Herrschaft“. Vor seiner „Regierungserklärung“ gab es im Bundestag ja zunächst das Gedenken an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 80 Jahren. Und dann das, was doch, so hat es SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich prophezeit, ein Tiefpunkt in der Geschichte des Bundestages werden könnte.
Wie Olaf Scholz nun Friedrich Merz attackiert
„Sie haben gesagt, Ihnen sei es gleichgültig, wer Ihren rechtswidrigen Vorschlägen zustimmt. Aber es ist nicht gleichgültig, ob man mit den extremen Rechten zusammenarbeitet. Nicht in Deutschland!“, ruft Scholz in seiner Regierungserklärung. Dies wiederholte er im TV-Duell (Seite 12) Im „Affekt“ habe Merz da einen über fünfundsiebzig Jahre alten Grundkonsens im Bundestag aufgekündigt, den Konsens, nicht mit extremen Rechten zusammenzuarbeiten. Merz habe sich nicht im Griff, soll das heißen. Es ist eine der zentralen Botschaften, mit denen Scholz aufholen will im Wahlkampf gegen den CDU-Mann. „Sie nehmen die Unterstützung der AfD für Ihre rechtswidrigen Vorschläge offen in Kauf. Die Unterstützung derer, die unsere Demokratie bekämpfen“, sagt er.
Scholz vergleicht Merz mal mit einem „Populisten“, mal mit einem „Zocker“, mal mit dem ungarischen Ministerpräsidenten und Rechtspopulisten Viktor Orbán. Unter Merz würde das größte Land Europas „offen EU-Recht brechen“, warnt er. „So etwas hätte kein Bundeskanzler je getan“, sagt Scholz, auch die früheren CDU-Kanzler nicht – von Konrad Adenauer bis Angela Merkel. So mancher Christdemokrat im Plenum schaut bei dieser Passage eher nachdenklich drein.
Es gebe Grenzen, die man als Staatsmann nicht überschreiten dürfe, sagte Scholz. Der Amtseid eines Bundeskanzlers laute, die Verfassung und das Recht zu wahren und zu verteidigen. Merz habe jetzt jedoch erklärt, er wolle mit seinen Vorschlägen zur irregulären Migration „‚all in‘ gehen – so wie man das beim Pokerspielen so daher sagt“. Aber Politik in unserem Land sei „doch kein Pokerspiel – der Zusammenhalt Europas ist kein Spieleinsatz“. Ein deutscher Bundeskanzler dürfe „kein Zocker sein, denn er entscheidet im schlimmsten Fall über Krieg oder Frieden“, so Scholz
Im Grunde geht nun allerdings auch Scholz „all in“. Sein Vorwurf, man könne Merz nicht länger glauben, dass er nach der Wahl nicht doch mit den Rechtsradikalen gemeinsame Sache machen werde, ist hart und vielleicht auch ungerecht. Illegitim ist er nicht. Merz selbst hat sich diesem Vorwurf ausgesetzt, indem er ohne Not einen Abstimmungs-„Erfolg“ mit Stimmen der AfD (und der FDP) provozierte.
Scholz hatte bekanntlich von Anfang an darauf spekuliert, dass der impulsive CDU-Chef einen Fehler machen würde. Es ist bezeichnend, dass der Kanzler Merz im Bundestag vorwarf, im Affekt gehandelt zu haben. Das widerspricht eigentlich der Darstellung, Merz habe sich bewusst nach rechts geöffnet und relativiert auch die angebliche Gefahr einer schwarz-blauen Regierung nach der Wahl. Es unterfüttert aber das Bild, das Scholz schon länger von Merz zu zeichnen versucht. Es ist das Bild eines Mannes, der sich im entscheidenden Moment nicht im Griff hat. Nun ja, das war also ebenfalls eine Wette des Wahlkämpfers Scholz, der ja einfach nicht einsehen will, dass seine „Verdienste“, die er sich selbst zurechnet, bei vielen Wählern nicht als solche wahrgenommen werden. Weil er für viele einfach das abgenutzte Gesicht einer komplett gescheiterten Ampel ist.
Die Union habe „bewusst kalkuliert hingenommen“, dass die AfD ihrem Antrag zustimme, sagte der Bundeskanzler in der ARD-Sendung „Maischberger“. Und das, obwohl Friedrich Merz immer wieder beteuert habe, genau das nicht zu machen: „Und deshalb, finde ich, kann ich ihm nicht mehr trauen, was ich noch bis vor einer Woche getan habe.“ Den mithilfe der AfD beschlossenen Antrag zur Verschärfung der Migrationspolitik nannte Scholz in der Sendung einen „Tabubruch“ und sagte: Der 29. Januar sei „wahrscheinlich ein ganz bedeutender Tag in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ gewesen. Der Konsens, dass demokratische Parteien nicht mit der extremen Rechten zusammenarbeiten, habe in Deutschland über die gesamte Nachkriegsgeschichte gegolten, so der Kanzler. Jetzt habe die Union den Konsens aufgekündigt.
Ändert das etwas bei der Wahl?
So weit, so schlimm – nicht nur aus Sicht der SPD, aber diese hat aufgrund ihrer Geschichte schon ein gewisses Recht auf Protest. Dem sehenswert angefassten Fraktionschef Rolf Mützenich zufolge sei CDU-Chef Friedrich Merz, der sich das Ganze ausgedacht hat, „leichtfertig, wissentlich und eben auch mit der klaren Konsequenz (…) aus der politischen Mitte dieses Hauses ausgebrochen“.
Es folgte dann der zweite Versuch von Merz, SPD und Grüne zu erpressen (so jedenfalls deren Sicht), indem er sogar einen Gesetzesentwurf mit Hilfe der AfD (und übrigens auch der FDP) durch den Bundestag bringen wollte. Und damit kläglich scheiterte (siehe auch Seite 4). SPD-Chef Lars Klingbeil sagte: „Friedrich Merz steht vor einem Scherbenhaufen. Er wollte seinen Weg ohne Wenn und Aber durchdrücken und ein zweites Mal gemeinsam mit der rechtsextremen AfD eine Mehrheit suchen.“ Und die Bilder der gemeinsamen Abstimmung von CDU und AfD, die würden für immer bleiben, so Klingbeil.
Das ist natürlich jetzt auch das Thema, das Olaf Scholz aufmacht. Die SPD ging nach der gescheiterten Merz-Abstimmung in den Angriff über und präsentierte sogleich neue Kampagnenplakate. „Wortbruch. Tabubruch. Schiffbruch“, lautet einer der Slogans. Scholz vermittelt den Eindruck, er sei noch immer der Sheriff in der Stadt, während er Merz die Rolle des schurkenhaften Pistoleros zuschreibt. Was die Wähler laut Umfragen ihm nicht abkaufen.Aber tatsächlich ist es nicht mehr gewiss, dass Deutschland nach der Bundestagswahl nicht unvermutet eine rechtsextreme AfD mit in der Regierung hat. Sheriff Scholz zum Trotz.