Du hast dir drei Paar neue Laufschuhe gekauft, auf Vorrat sozusagen. Denn du absolvierst ja täglich deine Kilometer und kannst daher voraus sehen, dass du die Schuhe alle nacheinander brauchen wirst. Was für eine heile Welt! Dann kommt am 24. Februar 2022 der Überfall Russlands auf die Ukraine. Welcher Mann in der Ukraine hat seither noch Interesse für drei Paar Laufschuhe?
Du hast deine Routinen, die dir wichtig erscheinen. Neben der Arbeit und den sonstigen Dingen des alltäglichen Lebens eben auch den Hang zur Bewegung, was dich auf Trab bringt, dein Gehirn durchlüftet und ja außerdem gesund sein soll. Deine Smartwatch ist da ein feines Spielzeug, weil sie alles so schön auflistet, was du leistest: Kilometerleistung, Herzfrequenz, Schrittzahl, Sauerstoffsättigung, Höhenmeter, aktiver Kalorienverbauch. Und dann siehst du eine Videoaufnahme aus Kiew, wo eine junge Frau dieselbe Smartwatch am Handgelenk trägt, die Arme über dem Kopf zusammen geschlagen, in einem Keller sitzend, verzweifelt eingepfercht, weil es draußen Bomben hagelt.
Du verfolgst die kommenden Tage all die Sondersendungen im TV und checkst alle paar Stunden die Nachrichten im Internet. Du spürst die Ohnmacht der Menschen in der Ukraine, die dem Krieg ausgesetzt sind. Du hörst die deutsche Außenministerin Baerbock sagen: „Wir sind fassungslos, aber wir sind nicht hilflos.“ Klar meint sie die Sanktionen gegen Putins Russland. Aber das Statement scheint dir trotzdem genau das auszudrücken, was es verneint. Da ist die Hilflosigkeit Deutschlands, und sogar der Welt. Das Gefühl der Ohnmacht greift auch auf dich über. Aber was heißt das schon, in Anbetracht all der Menschen, die in der Ukraine Tod und Verderben ausgesetzt sind?
Nach zehn Tagen Krieg in der Ukraine kommen die ersten Meldungen von eingekesselten Städten. Es heißt, dass nach all den Bomben nun die Leichen nicht mehr von den Straßen und Plätzen weggeschafft werden können. Und die Bevölkerung dieser Städte ist ohne Strom, ohne Gas, ohne Wärme, ohne Wasser. Wer nicht den Bomben zum Opfer gefallen ist, könnte also verdursten, verhungern, erfrieren. Es werden Krankenhäuser und Schulen von Raketen getroffen, weil die Angreifer das genau so wollen. Du kannst dir nicht vorstellen, dass es diese Unmenschlichkeit wirklich gibt. Aber so ist es.
Fast täglich wird in deutschen Talkshows das „Thema“ verhandelt: Krieg, Putin, USA, EU, Nato, Deutschland. Jede Menge Leute sitzen da und sagen etwas dazu. Es ist wie am Lagerfeuer. Es scheint fast, als würde Deutschland in seiner emotionalen Not vor dem Fernseher sitzen, um sich gegenseitig zu wärmen, bei „Anne Will“, „Markus Lanz“ oder „Hart aber fair“. Es gibt durchaus auch kluge und kompetente Aussagen von Teilnehmern der diversen Runden. Aber es ist eben auch immer dieser Ansatz von Entertainment dabei, wenn die „Talkmaster“ ihren Gästen etwas rauskitzeln wollen, oder gegensätzliche Meinungen schärfer in Kontrast stellen wollen. Das haben die von den Corona-Runden oder den Polit-Runden im Wahlkampf noch so drin. Auf den Krieg in der Ukraine passt es nicht. Wenn jetzt der Strom ausfiele, wie in hunderttausenden Haushalten in den eingekesselten Städten der Ukraine, dann wären die Talkshows weg. Wie übrigens auch dein Spielzeug am Handgelenk, dessen Akku keine 24 Stunden halten würde. Dir wird klar, dass dies für die eingekesselten Menschen besonders schlimm sein muss, dass ohne Strom auch der Zugang zu Informationen unterbrochen ist.
Du hast Phantasien vom Sieg der Ukraine. Das ist eingeübt in den friedlichen Zeiten, vom Fußball übernommen. Du kennst es ja nicht anders. Der „Underdog“, der keine Chance hatte, aber das Siegtor schießt. Du saugst jede Meldung auf, in der Experten (gerne Generäle a.D.) sagen, dass die Ukraine vielleicht doch eine Chance habe, im Krieg gegen Russland. Und derweil du das hoffst, sterben dort täglich Menschen, oft auf grausame Weise. Wie soll denn da ein „Sieg“ aussehen? Es gibt nur unvorstellbares Leid. Es gibt Leute wie Putin, die mit diesem Leid auch noch kalkulieren. Als „Strategie“ des Grauens.
Kommt der Atomkrieg? Du bist nicht sicher, ob drei Paar neue Laufschuhe nicht doch zu optimistisch eingekauft waren.