Es war ein Griff in die Mottenkiste, den sich Friedrich Merz kurz vor der Landtagswahl in Niedersachsen geleistet hat. Obwohl sich schon früher gezeigt hat, dass es der Union nichts bringt, wenn sich ihre Protagonisten rechts aus dem Fenster lehnen (man frage nach bei Markus Söder), übte sich Merz in plattem Populismus und prägte das Wort vom „Sozialtourismus“ in Bezug auf ukrainische Flüchtlinge, wohl in der Hoffnung, dadurch seiner CDU in Niedersachsen hilfreich zur Seite zu springen. Resultat: Rund 40.000 Wähler sind in Niedersachsen von der CDU zur AfD gewechselt. Die CDU verlor massiv, erzielte das schlechteste Ergebnis in Niedersachsen seit 1955, und flog so auch aus der bisherigen Regierungskoalition im Landtag. Zudem haben Pöbler in Leipzig bei ihrer Hetze gegen ukrainische Flüchtlinge genau jene unsäglichen Gedanken von sich geschrien, die Friedrich Merz zuvor salonfähig gemacht hatte.
Nachdem CDU-Chef Friedrich Merz ja stets angekündigt hatte, die CDU werde unter seiner Führung die AfD „halbieren“, verdoppelte sie in Niedersachsen ihr Wahlergebnis – auf 10,9 Prozent. Da natürlich in der Politik sowieso immer die anderen Schuld haben, wies Merz den Vorwurf zurück, dass er durch seinen Begriff „Sozialtourismus“ den politischen Gegner gestärkt und entsprechend seine CDU geschwächt habe. „Ich fand‘s nicht richtig und war ehrlicherweise verwundert, weil der Friedrich Merz, den ich in den letzten Wochen und Monaten gerade hinsichtlich der Ukraine kennengelernt habe, war nicht der Friedrich Merz, der diesen Satz und dieses Wort gesagt hat“, kommentierte Serap Güler, Mitglied des Bundesvorstandes der CDU, die Wahlschlappe seiner Partei in Niedersachsen.
Wie war das genau mit dem „Sozialtourismus“ von Friedrich Merz?
„Wir erleben mittlerweile einen Sozialtourismus dieser Flüchtlinge: Nach Deutschland, zurück in die Ukraine, nach Deutschland, zurück in die Ukraine“, sagte Merz Ende September in einem Interview mit „Bild-TV“. Geht`s noch? Menschen, die vor dem größten Horror fliehen, den es auf Erden gibt – Tod, völlige Zerstörung, Gräueltaten, Folter, Verbrechen – sollen sich wie „Touristen“ verhalten? Gemeinhin ist man als Tourist ein Mensch, der den Urlaub genießt, die Seele baumeln lässt und mal so richtig ausspannt. Krieg ist die schlimmstmögliche Situation, die es gibt. Insofern ist allein der Begriff „Touristen“ für die Flüchtlinge aus der Ukraine ein völliger Fehlgriff. Familien lassen im Krieg oft alles zurück. Ihre Häuser (wenn sie überhaupt noch stehen), ihre Ehemänner und Väter (wenn sie überhaupt noch leben). Diese Flüchtlinge lassen ihr ganzes bisheriges Leben zurück. Dass Menschen das tun, um in Deutschland etwas Geld abzustauben, ist völlig absurd. So etwas zu behaupten ist zynisch.
Und dies umso mehr, wenn es dem eigenen Vorteil dienen soll. Friedrich Merz wollte mit solchen Aussagen ja politisch punkten. Er wollte auf dem Rücken ukrainischer Flüchtlinge für die CDU im Wahlkampf in Niedersachsen im rechten Lager Stimmen fangen. Als hätten die Menschen, die vor dem Krieg in ihrer Heimat fliehen müssen, nicht schon genug an Sorgen auf ihrem Rücken zu tragen.
Wie Merz auf Kreml-Propaganda herein fiel.
Noch schlimmer als die schäbige politische Absicht, die hinter der populistischen Äußerung von Merz steckte, ist seine völlige Unbedarftheit bezüglich der Fakten. Merz hat, offenbar ohne das überhaupt zu merken, seine Behauptung aus russlandfreundlichen Quellen gespeist. Er nannte im Interview ja keine Fakten, hatte keine Belege für seine Aussagen.
Weil er das nicht tat, haben sich dann Journalisten um die Frage der Faktenspur gekümmert. Recherchen vom ARD-Magazin „Monitor“ zeigen: Verbreitet wurde das Gerücht über den „Sozialtourismus“ zuerst von pro-russischen und rechtsextremen Kanälen. „Monitor“ zeigt: Begonnen hatte es mit einer Sprachnachricht am 10. September im Messengerdienst Telegram. Unter dem Titel „Organisierter Betrug“ wird von einem anonymen Nutzer behauptet, ukrainische Flüchtlinge würden regelmäßig mit dem Busunternehmen Flixbus in ihre Heimat reisen: „Die Flixbusse sind auf über zwei Wochen im Voraus ausgebucht, weil die Ukrainer mit dem Flixbus nach Deutschland pendeln, hier zum Amt gehen, sich melden, Hartz-IV beziehen und dann mit dem Flixbus wieder zurückfahren.“ Diese anonyme „Nachricht“ wurde vor allem von pro-russischen Kanälen auf Telegram geteilt, Kanälen, wie „Neues aus Russland“ – betrieben von der Putin-treuen Influencerin Alina Lipp.
Na klar: Ein Gerücht ist schnell in die Welt gesetzt. Aber war da etwas dran? Flixbus antwortete auf „Monitor“-Anfrage: Zwar sei die Nachfrage nach Reisen in die Ukraine noch immer sehr hoch, aber: „Zum Vorwurf des ‚Sozialtourismus‘ von Herrn Merz liegen uns keinerlei Hinweise vor.“ Zählungen an den Grenzübergängen zeigen zudem: Nach Rückzug der russischen Armee aus Teilen der zuvor besetzten Gebiete, hat der Rückreiseverkehr in die Ukraine deutlich zugenommen.
Und was sagen eigentlich die Jobcenter, die ja für die Auszahlung des Hartz-IV-Satz, der Grundsicherung, zuständig sind, von dem Merz behauptete, dass die ukrainischen Flüchtlinge diese Gelder „gerne mitnehmen“? Tja, die Jobcenter können keinen Beleg für einen behaupteten „Sozialtourismus“ finden. Die Jobcenter ergriffen „regelmäßig zahlreiche Maßnahmen, um potenziellen Leistungsmissbrauch aufzudecken“, schreibt die Bundesagentur auf Anfrage von „Monitor“: Unter anderem interne Datenabgleiche und solche mit anderen Behörden, Kontrollbesuche an der Meldeadresse durch Außendienstmitarbeiter. Ergebnis: „Die Bundesagentur für Arbeit hat aktuell keinerlei Anhaltspunkte über einen ‚Sozialtourismus‘ nach Deutschland.“
Eine Umfrage unter den 16 deutschen Landesregierungen führt diesbezüglich ebenso ins Leere. 13 Landesregierungen haben auf „Monitor“-Anfrage geantwortet. Die Antworten gleichen sich. Zum angeblich verbreiteten Sozialbetrug durch Pendelverkehr zwischen Deutschland und der Ukraine schreibt etwa die Sprecherin des Innenministeriums von Mecklenburg-Vorpommern, es lägen „keine belastbaren Erkenntnisse vor“.
Auch andere Medien wollten es genauer wissen als Merz selbst, etwa die „Süddeutsche Zeitung“: „Sozialgesetze sind für Migrationsbewegungen irrelevant“, erklärte dort Olaf Kleist vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung. Wer vor Waffengewalt fliehe, versuche in der Regel, nah an dem alten Wohnort Zuflucht zu finden. Über alle Konflikte hinweg zeige sich, dass zwei Drittel aller Vertriebenen im eigenen Land blieben. Wer die Heimat verlässt, bleibt zumeist in Nachbarstaaten. Wenn Geflüchtete dennoch in entferntere Länder ziehen, dann zumeist, weil sie dort Freunde oder Familie haben.
Was war die Folge der Behauptung von Merz?
Die Behauptung von Merz hielt also keinem Faktencheck stand. Und dennoch hatte sie Folgen. Merz entschuldigte sich für seine Wortwahl. Er habe niemandem zu nahe treten wollen, blieb aber dabei, dass es zunehmende Probleme mit einer steigenden Zahl von Flüchtlingen aus der Ukraine gebe. Russische Medien nahmen den Ball auf: Sie verbreiteten die Meldung von Merz‘ Vorwurf und seiner Entschuldigung: „In Deutschland empört man sich über die ukrainischen Flüchtlinge“, meldete etwa die staatliche Nachrichten-Agentur RIA Novosti. Und der kremlnahe Sender TSARGRAD-TV des Oligarchen Konstantin Malofeev titelte: „Friedrich Merz – erst hat der deutsche Politiker geschimpft, dann wurde er gezwungen, es zu bereuen.“ So wurde der CDU-Cef zum perfekten Botschafter für russische Propaganda. „Russische Medien haben Friedrich Merz am Ende als Zeuge präsentiert für zwei Desinformationsnarrative des Kremls“, sagt der Berliner Kommunikations- und Politikberater Johannes Hillje bei „Monitor“. „Erstens für die Behauptung, dass ukrainische Geflüchtete Betrüger seien, und zweitens, dass in Deutschland freie Meinungsäußerung nicht mehr möglich wäre.“
Das Ende vom Lied des Friedrich Merz.
Es braucht schon eine innere Bereitschaft, um so auf russische Propaganda herein zu fallen. Merz entpuppt sich als einer, der immer mit Populismus agiert: Seine Nachtfahrt nach Kiew (um Kanzler Scholz zu brüskieren), seine vehementen Forderungen nach Panzern für die Ukraine, und sein Angriff auf ukrainische Flüchtlinge. Wie das zusammen passt? Neue Brille, alter Blödsinn hinter der Stirn.