Manche behaupten schon länger, dass der französische Präsident Emmanuel Macron zu abgehoben sei. Er spreche zu oft von oben herab. Und, nun ja, jetzt hat er das buchstäblich wieder getan. Über den Wolken war es, wo die Freiheit wohl grenzenlos ist (man frage nach bei Reinhard Mey), da gab Macron auf dem Rückflug von China zwei Interviews, mit dem er von sich reden machte. Er forderte darin, die EU dürfte sich von den USA nicht willenlos hineinziehen lassen in den eskalierenden Konflikt mit China und möglicherweise einen Krieg um Taiwan. Dies sei ein Konflikt, „der nicht der unsrige“ sei. Diese Äußerung hat einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Und man darf wohl vermuten, dass Macron dies auch genau so beabsichtigte.
Ein Versehen ist ausgeschlossen. Dazu muss man wissen, dass die Interviews, die Macron der Zeitung „Les Echos“ und dem Magazin „Politico“ gab, vor ihrer Drucklegung noch einmal Macron und dessen Medienabteilung vorgelegt werden mussten. Sie wurden also genau so autorisiert, Wort für Wort, bis hinter das letzte Komma. Damit ist klar, dass Macron nicht nur seine Forderung nach einer eigenen europäischen Strategie in der Taiwan-Frage unter die Leute bringen wollte, sondern ganz bewusst auch mit dem einen oder anderen Begriff provozieren wollte. Etwa, wenn er Europa als „Mitläufer“ oder „Vasall“ der USA bezeichnete.
Was an Macrons Alleingang bedenklich ist
„Das Schlimmste wäre zu denken, dass wir Europäer bei diesem Thema zu Mitläufern werden und entweder dem amerikanischen Duktus oder einer chinesischen Überreaktion folgen müssen“, so Macron. Europa sollte nicht zur Eskalation des Konflikts beitragen, sondern seine eigene Position verfolgen als dritter Pol zwischen den USA und China. Wobei „dritter Pol“ mitunter auch als „dritte Supermacht“ übersetzt wurde.
„Mitläufer“ der USA? Dieses Wort muss ja nicht nur Chinas Machthaber Xi Jinping, bei dem Marcron gerade zu Besuch war, sondern auch Russlands Präsident Putin gefallen. Denn es setzt die Axt an die transatlantische Geschlossenheit. Und dies gerade auch deshalb, weil Macron nicht ganz falsch liegt, wenn er den USA unterstellt, dass ihr Engagement für die Ukraine auch einen strategischen Nutzen haben soll. Macron sagte, dass die USA den Europäern im Konflikt mit Aggressor Wladimir Putin nicht nur deshalb aus der Patsche helfen, weil sie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte verteidigen – sondern auch, weil sie als Supermacht das strategische Ziel verfolgen, die Europäer im Konflikt mit China auf ihre Seite zu zwingen. Der republikanische Senator von Florida, Marco Rubio, nahm diese verbale Steilvorlage prompt an und stellte die Frage, warum die USA denn weiter an der Seite Europas und der Ukraine stehen sollten, wenn man im Konflikt mit China nicht auf die Unterstützung der Europäer setzen könne.
Genau eine solche Debatte freut sowohl Xi Jinping wie auch Purtin. Denn sie markiert Risse in der Geschlossenheit des „Westens“. Doch der russische Angriffskrieg zeigt ja gerade, wie sehr Europa die USA braucht: Die Amerikaner haben etwa doppelt so viel ausgegeben wie die gesamten EU-Institutionen, zehnmal mehr als Deutschland und vierzigmal so viel wie Macrons Frankreich. Ohne die Hilfen der USA würde es die Ukraine längst nicht mehr geben. Daher wirken die Worte von Macron abseitig und weltfremd.
Noch bedenklicher ist die Ignoranz Macrons gegenüber europäischen Partnern. Denn viele EU-Länder – allen voran die Osteuropäer – sehen das Engagement der USA keineswegs als Bevormundung, sondern als Garantie ihrer Sicherheit und Souveränität. Mit seinen EU-Partnern hatte der französische Präsident seine Äußerungen gar nicht abgestimmt.
Die Spirale der Empörung deutscher Politiker
Als Reaktion auf Macrons provokante öffentliche Äußerungen schaukelte sich dann in Deutschland eine Spirale der Empörung hoch. Man muss wohl sagen: ein Spiegelbild der derzeitigen politischen Verhältnisse in Deutschland.
Den Anfang machte Norbert Röttgen (CDU), wie immer stets oberschlau vorneweg. „Macron scheint von allen guten Geistern verlassen. Während es Amerika ist und nicht Frankreich oder Deutschland, das die Ukraine maßgeblich unterstützt und damit Europa verteidigt, fordert Macron eine Abkehr von Amerika. Und während China gerade den Angriff auf Taiwan übt, verlangt Macron eine Annäherung an China“, so Röttgen gegenüber der „Bild“.
Demgegenüber positionierte sich dann SPD-Bundestagsfraktionschef Rolf Mützenich: „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht Partei in einem Großkonflikt zwischen den USA und der Volksrepublik China werden“, sagte Mützenich im ARD-„Morgenmagazin“. Somit habe Macron recht. Dabei wirkten die Worte von Mützenich wie ein (fast unerträglicher) Abklatsch von Macrons Äußerungen: Europa müsse versuchen, „eine eigenständige Rolle so weit wie möglich zu formulieren und nicht als Anhängsel der USA dort in der Region auch zu erscheinen.“ Na ja, zwischen „formulieren“ und in der Realität eine solche Rolle auch einzunehmen klafft ein Krater. Gleichzeitig ging Mützenich, quasi im Nebensatz, auf Außenministerin Annalena Baerbock los. „Sie hat sich ja sehr – zumindest aus Sicht Chinas – undifferenziert in dieser Situation eingelassen. Weil wir haben ja plötzlich in Europa neue Partner: Aserbaidschan, Katar, die haben ja nun auch keine menschenrechtlich weiße Weste“, sagte Mützenich. „Deswegen sollten wir auch nicht immer mit Absolutheit auftreten – ich glaube, gerade in Asien kommt das nicht so gut an.“
Dies wiederum brachte Grünenchef Omid Nouripour auf die Palme. „Es ist irritierend, dass ein so kluger Kopf wie Rolf Mützenich den Fehler anderer wiederholt, die Souveränität Europas und die transatlantische Freundschaft als Gegensätze zu verstehen“, sagte Nouripour dem „Spiegel“. „Noch irritierender“ als Mützenichs Lob für Macron sei allerdings „die Verkennung der Tatsache, dass Annalena Baerbock in der Chinapolitik den gemeinsam vereinbarten Koalitionsvertrag umsetzt. Diesem hat auch die SPD zugestimmt“, betonte der Grünenvorsitzende. (Zum „Ampelstreit“ über Baerbock siehe auch Seite 6)
Nach so viel Aufgeregtheit hat schließlich der außenpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Jürgen Trittin, im Umgang mit den umstrittenen Äußerungen von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zu Taiwan zu mehr Gelassenheit geraten. „Macron hat eine einfache Wahrheit ausgesprochen: Europa muss sich eine Strategie für den Fall überlegen, dass nach 2024 in den USA wieder eine trumpistische Administration mit einem antieuropäischen Kongress zusammen versucht, die Welt in zwei Teile aufzuspalten“, sagte Trittin den Zeitungen des Redaktionsnetzwerk Deutschland. „So eine Bipolarität wäre nicht in unserem Interesse. Die Beschreibung einer eigenständigen europäischen Rolle ist im Interesse Europas und daher nicht gleich als anti-transatlantisch zu verstehen. Ich empfehle da etwas weniger Aufregung“, sagte Trittin weiter. „Es gibt keine Scherben zum Zusammenkehren, zumindest keine, die Macron verursacht hat.“
Baerbock räumt das Macron-Thema in China ab
Ausgerechnet Annalena Baerbock bewies dann ein für sie seltenes diplomatisches Gespür, als sie in China weilte und auf Macrons Interviews angesprochen wurde. Dem Eindruck, die EU sei in der Taiwan-Frage gespalten, widersprach Baerbock bei dem Besuch in Tianjin. Mit Blick auf die Äußerungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron sagte die Außenministerin, die französische Chinapolitik spiegele „eins zu eins die europäische Chinapolitik“ wider. Bei allen Differenzen in der EU sei es eine Stärke, „dass wir bei den zentralen Fragen von unseren Interessen und Werten nicht nur nah beieinander sind, sondern gemeinsame strategische Ansätze verfolgen“. Sagen wir so: Eine Botschaft ohne klaren Inhalt. Diplomatisch eben.
Frankreich als Anführer?
Radio France, das selbst beim Interview über den Wolken dabei war, kommentierte es so: Emmanuel Macron habe in allen Punkten recht – aber in der Welt der Diplomatie müsse man auch schweigen können, um Ziele zu erreichen. Dafür ist Macron allerdings nicht bekannt. Er möchte gerne, manchmal ein bisschen abgehoben, von sich reden machen und dabei auch noch den Ton setzen. Das tat er ja schon, als er – noch zu Trumps Zeiten als US-Präsident – die Nato „hirntot“ nannte.
Macrons Wunsch nach einem starken und möglichst eigenständigen Europa ist natürlich nicht falsch. Und die Gefahr, dass in den USA vielleicht bald nicht mehr Joe Biden regiert – gerade weil amerikanische Wähler ihr Steuergeld nicht länger für das ferne Europa und den Krieg in der Ukraine ausgeben wollen – ist durchaus real. Allerdings klingt es bei Macron immer so, als könne Frankreich die „dritte Supermacht“ Europa anführen. Was aber ist, wenn Macron gerade mit seiner Innen-Politik dafür sorgt, dass Frankreich alsbald von Rechtsextremen regiert wird? Führt dann Marine Le Pen Europa an?