Du wunderst dich schon lange darüber, dass die meisten Leute es so gerne krachen lassen. Du staunst über das heidnische Ritual, mit Böllern die bösen Geister zu vertreiben. Und du rätselst, was den Reiz ausmacht, laut, grell und verschwenderisch zu sein. Das Feiern? Die Freiheit? Der Nervenkitzel? Das Spiel mit dem Feuer? Aber gut, Kanzler Scholz hat sich ja eindeutig positioniert, mit seiner Sprache vom Doppel-Wumms. Über andere Parteien kannst du nur Mutmaßungen anstellen: Die FDP fordert bestimmt freie Böllerei für freie Bürger, die Grünen machen ja neuerdings voll auf pragmatisch: Lieber eine Nacht in Schall und Rauch, um irgendwann in Zukunft dann alles echt klimaneutral zu machen, mit grünem Wasserstoff, der am Himmel unsichtbare Farben malt. Die Linke wird garantiert anmahnen, dass das Bürgergeld einen Böller-Bonus enthalten sollte. Das Duo Strack-Zimmermann und Toni Hofreiter werden fordern, dass der Scholz nicht so zögerlich sein soll, den Menschen im Land moderne Raketen für den Schuss an Silvester zu liefern. Und Merz wird als CDU-Chef vor dem Raketen-Tourismus warnen, den er beobachtet, wenn Leute aus der Ukraine extra nach Deutschland kommen, um hier das große Krachen zu erleben.
Was könnte es also sein, das weltweit die Leute in eine Art kollektiver Ekstase versetzt? Ist es vielleicht genau das: die Gemeinschaft der Menschen? Oder noch mehr: Der gemeinsame Jubel der Menschen, ein neues Jahr erreicht zu haben? Besteht dann das Glück darin, dass es die Menschheit auch 2023 noch gibt? Ist es ein Grüßen über alle Grenzen hinweg? Nein, das ist es nicht. Wie so oft scheint das nur so, weil eben nur aus jenen Großstädten der Welt die Feuerwerke, Feiern und all der Jubel gezeigt werden, die reich sind. Man könnte sagen: Es zeigt den Zustand der Welt ganz gut, dass aus weiten Teilen Afrikas nichts zu sehen ist.
Die Frühstarter
Du siehst schon früh am Nachmittag kleine Gruppen, meist Familien, Vater, Mutter und ein paar Knirpse. Ein Böller hier, ein Böller dort, das scheint dir quasi die Heranführung der Kleinsten ans allgemeine Getöse zu sein. Es sieht aus wie eine schmerzhafte Pädagogik. Denn die Kurzen wissen noch nicht, dass der laute Knall toll sein soll. Sie schauen verwirrt bis ängstlich drein.
Ab 18 Uhr beginnt das Trommelfeuer. Aber warum eigentlich? Ist das pubertärer Drang, der nicht bis Mitternacht warten kann? Muss die Rakete raus, kaum dass es dunkel wurde? Soll das Pulver schnell verschossen werden, weil es sonst nicht auszuhalten ist? Will da so mancher Zeitgenosse seinen Nachbarn zeigen, dass er genug Munition für etliche Stunden hat?
Die längste Sekunde
Kurz vor Mitternacht beginnt dann die längste Sekunde. Sie dauert über eine Stunde lang. Mit nicht nachlassender Vehemenz wird bis nach ein Uhr im neuen Jahr geböllert, werden Raketen in den Himmel geschossen. Es scheint Nachholbedarf zu geben, nach den beiden Corona-Jahren, in denen die Menschenansammlungen zu Silvester verboten waren. Jetzt dürfen sich wieder fremde Leute in den Armen liegen, während es rechts und links nur so knallt und alsbald dichte Rauchschwaden die Szenerie in den Nebel der Glückseligkeit tauchen. Ja, kann es Schöneres geben? Das Risiko und die Gefahr tragen noch zum Event bei: Der Knallkörper, der die Socken versengt, die fehlgeleitete Rakete, die knapp am linken Augen vorbei zischt, die aufgeregten Schreie des Schreckens, die bestimmt von den kreischenden Mädels kamen. Man feiert halt.
Es gab auch Opfer, hier Beispiele ohne den Anspruch auf Vollständigkeit: Ein 17-Jähriger in Leipzig verletzte sich beim Einsatz von Pyrotechnik so schwer, dass er im Krankenhaus starb, wie die Polizei an Neujahr mitteilte. Ein 42-Jähriger wurde bei Gotha beim Hantieren mit online bestellten Böllern so schwer verletzt, dass ihm beide Unterarme amputiert werden mussten, wie die Polizei sagte. In Schleiz verlor ein 21-Jähriger bei einem Unfall mit einem Sprengkörper eine Hand. Die illegale Kugelbombe sei direkt beim Entzünden explodiert. Bei Hannover musste ein 46 Jahre alter Mann in der Nacht notoperiert werden. Er hatte einen Böller in eine Metallhülse gelegt, aus dieser wurden bei der Explosion Teile herausgesprengt und umhergeschleudert. Ein Mann aus Weißenfels habe sich „die linke Hand komplett weggesprengt, da war nichts mehr zu retten“, sagte Cord Corterier von der Spezialklinik für Handchirurgie in Halle. Außerdem sei der Mann an der rechten Hand verletzt worden und habe ein Auge verloren. Wie sollen wir sagen: No risk, no fun?
Randale und dumpfe politische Debatte
Es gab heftige Ausschreitungen in der Silvesternacht. Vor allem in Berlin, aber auch in Hamburg, Duisburg und anderen Städten wurden Rettungskräfte der Feuerwehr sowie Polizisten gezielt mit Böllern und Raketen angegriffen. Wie doof ist das denn?
Und zwar im doppelten Wortsinn. Einmal weil Helfer, die etwa Brände löschen wollen, nur von Idioten angegriffen werden, denen es offenbar egal ist, wenn der Balkon des Nachbarn abbrennt, der ja im gleichen Viertel wohnt und ebenfalls an Armut leidet. Vor allem aber, weil es immer nur ein ganz kurzer Triumph des überschießenden Testosteron ist, Polizisten anzugreifen. Denn diese wissen sich am Ende doch zu wehren. Und dann sind die „Helden“ der Nacht bald die armen Würstchen, die sich ihre Strafe abholen und damit ihre ohnehin schon bescheidene Situation noch weiter verschlechtern.
Die darauf folgende politische Debatte war so dumpf wie es zu erwarten war. Schnell wurde die Silvesterrandale in eine Migrationsdebatte mit rassistischen Untertönen umfunktioniert. Es ist billig, es kostet ja nix, wenn Politiker (gerne von der CDU) den Wählern ein X für ein U vorgeigen. Sie tun dann so, als sei Deutschland Opfer von gewaltbereiten jungen Männern aus muslimischen Einwanderungsfamilien. Und sie tun so, als sei der Rechtsstaat ein zahnloser Tiger und müsse man dringend neue, schärfere Gesetze und Verbote erlassen. Das Kalkül dahinter: Die Randale für eigene politische Zwecke zu nutzen und der Ampel-Regierung den schwarzen Peter dafür zuzuschieben.
Dabei entspricht das nicht der Realität. Denn die Täter werden juristisch verfolgt werden, da gab es noch nie ein Pardon und auch keine Hilflosigkeit des Rechtsstaates. Das Strafrecht hat genug Zähne. Es braucht keine Verschärfung, sondern höchstens mehr Tempo, um allen vor Augen zu führen, wo solche idiotischen Angriffe dann enden. Das mangelnde Tempo ist allerdings nicht auf die Kraft der Straftäter zurück zu führen, sondern auf den Mangel an Personal bei der Justiz (wie ja auch bei der Polizei oder dem Pflegepersonal in Deutschland). Und dafür sind frühere CDU-Bundesregierungen sowie unionsgeführte Länder mehr verantwortlich als die heutige Ampel-Regierung.
Es ist also ein doofes Spiel mit Klischees, das da politisch betrieben wird, begleitet von einer unsäglichen Kampagne der „Bild“-Zeitung, die der ARD quasi in Querdenkermanier vorwarf, dass dort die Tatsachen verheimlicht würden. Es ist in Wahrheit genau umgekehrt: Die ARD hat sowohl in der „Tagesschau“ wie auch in den „Tagesthemen“ am 4. Januar sehr schnell (vielleicht sogar vorschnell) berichtet, dass Bundesinnenministerin Nancy Faeser sagte: „Es gebe in Großstädten ein Problem mit bestimmten, gewaltbereiten, jungen Männern mit Migrationshintergrund.“ Später kam heraus: Die meisten Festgenommenen nach Böllerangriffen auf Polizisten und Feuerwehrleute sind deutsche Staatsbürger und jünger als 21 Jahre. Hinzu kommt etwas, das völlig aus der Debatte ausgeblendet wurde. Ein Großteil der Menschen mit Migrationshintergrund sind über die Gewaltausbrüche ebenso entsetzt wie alle anderen.
Feuerwerksraketen und Krieg in der Ukraine
Und dann gab es ja noch das Neujahrs-Video von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, wie sie sich vor lauter Böllerei mitten in Berlin kaum verständlich machen konnte. Und ja, tatsächlich kann man kaum glauben, dass es einer hochrangigen Politikerin trotz all ihrer Berater und sonstigen Medien-Profis noch gelingen kann, ein solch hilflos dilettantisches Video auf Twitter zu veröffentlichen. Es führte ja dann auch zu ihrem Rücktritt.
Man stelle sich vor, dass das exakt gleiche Video von Lambrecht in Kiew aufgenommen worden wäre, mit echten Raketen am Himmel hinter ihr. Die Böllerei von uns allen an Silvester 2022/23 blendet den Krieg in der Ukraine genau so aus, wie Lambrecht das tat. Sie war also nicht allein mit ihrer Ignoranz. Sie war nur die Person, die genau das repräsentierte, was Deutschland zum Start ins Jahr 2023 machte. Böllern bis der Arzt kommt. Ein Feiern wie sie das in der Ukraine gerne hätten. Denn dort fallen tödliche Raketen jeden Tag vom Himmel. Und die Moral von der Geschicht: So manchem fehlt das Augenlicht!