Mit einem brillanten Gastbeitrag in der SZ hat Alexander Estis den Antisemitismus thematisiert. Im Gespräch reflektiert er über die aktuelle antisemitische Stimmung, deren Gründe und was dagegen zu tun ist. Der jüdische Schriftsteller und Kolumnist, der gerade mit dem Kurt-Tucholsky-Preis ausgezeichnet worden ist, wurde 1986 in Moskau geboren, studierte in Deutschland, lehrte an diversen Universitäten und lebt inzwischen als freier Autor in der Schweiz. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Fluchten“ beim Verlag Edition Mosaik.
Minister Robert Habeck hat in seiner aktuellen Rede zum Antisemitismus gesagt, dass ihm Mitglieder der jüdischen Gemeinde Frankfurt berichteten, sie würden ihren Kindern jetzt das Tragen von jüdischem Schmuck verbieten, um sie zu schützen. Ist es wieder soweit, dass man sein Judentum verstecken muss, dass man Angst haben muss?
Alexander Estis: Das muss man differenziert sehen. Ob man den Davidstern verstecken muss, hängt vermutlich sehr davon ab, wo man sich gerade bewegt. In bestimmten Kreisen weiß man ja, dass man sich nicht so einfach öffentlich als der jüdischen Kultur oder Religion zugehörig zeigen sollte. Das war ohnehin schon nicht ganz unproblematisch, aber jetzt ist die Gewaltbereitschaft und die tatsächliche Gewalt gegenüber Juden erhöht. Das ist Fakt. Es gibt also eine erhöhte Gefährdungslage. Dass man dann als jüdischer Mensch drei- oder viermal darüber nachdenkt, ob man sich dem Risiko aussetzen möchte, ist natürlich klar. Und als kleine Ergänzung aus subjektiv jüdischer Perspektive: Es geht nicht nur um die erhöhte Gefährdungslage, sondern es geht auch um ein Gefühl der Verunsicherung und des Alleingelassenseins. Diese Angst ist bei jüdischen Menschen fast genetisch veranlagt, über Generationen hinweg, so dass man beim ersten Anzeichen für eine Progromstimmung sehr schnell reagiert. Denn man weiß auch aus der Geschichte und aus den Familiengeschichten wie schnell das eskaliert, wenn zum Beispiel ein Judenstern auf einer Fassade auftaucht, wie das zu katastrophalen Ergebnissen führt.
Überall auf der Welt zeigen sich derzeit in erschreckender Weise antisemitische Tendenzen. Muss die Antwort darauf in der Bildung und Aufklärung liegen?
Alexander Estis: Das ist eine gute Frage. Leider ist das nicht immer eine effektive Antwort, aber wir haben letztlich fast keine andere. Klar, was unter bestimmte Straftatsbestände fällt, da gibt es nur eine Antwort, das muss juristisch konsequent geahndet werden. Aber in der Prävention haben wir nicht viele andere Möglichkeiten als die der Bildung und Aufklärung. Ich denke, da hat man viel zu wenig umgesetzt. Wir leben in einer Zeit voller Krisen, und wenn eine Krise kommt, dann reagiert man mit kurzfristigen Mitteln darauf, aber Bildung funktioniert natürlich nicht so. Bildung muss auf sehr lange Strecken gedacht werden. Ich glaube in der Bildungspolitik ist sehr viel schiefgegangen, sowohl an den Schulen als auch an den Universitäten. Die Versuche, die Bildung zu reformieren, sind oft fehlgegangen. Das hat natürlich auch mit den Budgets für Schulen zu tun und mit dem Versuch, neue Inhalte in alte Fächer zu pressen.
An den meisten Schulen gehen die Klassen einmal in ein früheres Konzentrationslager. Im besten Fall ist dieser Besuch dann ein Erkenntnismoment, im schlechtesten einfach ein Schulausflug.
Alexander Estis: Ich kann das nicht so im Einzelnen beurteilen. Ich möchte aber noch anfügen, dass Schulbildung nur ein Teil ist. Wenn in den Familien oder im unmittelbaren Sozialisationsumfeld eine ganz andere Schiene gefahren wird, dann sind auch die Schulen so gut wie machtlos. Das ist das Hauptproblem. Da gibt es auch nur sehr wenig Handlungsspielraum. Wenn jemand mit der Schule zu einem Ausflug ins KZ fährt, dann aber zuhause Witze über Schornsteine in Konzentrationslagern gemacht werden, dann wird es wahrscheinlich nicht viel gebracht haben, dass man dort war. Aber natürlich muss die Schule trotzdem alles daran zu setzen, diese Themen richtig zu behandeln. Und was heißt richtig? Ich glaube, es fehlt nicht unbedingt an der hinreichenden Behandlung des Dritten Reiches im Unterricht, soweit mir die Lehrpläne vertraut sind. Die Frage ist, inwieweit vermittelt man den Schülerinnen und Schülern, was sie aus dieser Zeit für den Umgang mit heutigen Ereignissen mitnehmen sollen. Dieses aufklärerische Element ist entscheidend – ob es nun um Antisemitismus, Rassismus, Verschwörungstheorien oder Menschenrechte allgemein geht. Inwieweit wird da ein Handwerkszeug mitgegeben, das auch der Orientierung in der heutigen Realität dienen kann. Hinzu kommt, im momentanen Antisemitismus spielt der Nahostkonflikt oft eine wichtigere Rolle als der Holocaust, und ich glaube, diesem Konflikt wird in der Schule noch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, der Geschichte des Staates Israel.
Wenn die sozialen und familiären Strukturen der bestimmende Faktor für Antisemitismus sind, bedeutet dies, es wird ihn immer geben?
Alexander Estis: Man müsste Bildung eben viel umfassender sehen, als nur über Schule. Wenn man mehr Mittel hätte, dann gäbe es auch Möglichkeiten, sich mit den Eltern auszutauschen, sie beispielsweise für gemeinsame Aktivitäten an die Schulen einzuladen. Aber offensichtlich hat die Bildung einen zu geringen Stellenwert, um dafür genügend Mittel locker zu machen. Die Frage ist, wie kommt man an Menschen heran auch außerhalb der Bildungsinstitutionen. Es gibt Modelle wie zum Beispiel die „aufsuchende Bildungsarbeit“, die zu den Menschen nach Hause kommt. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, was man gegen Abschottung beispielsweise migrantischer Milieus machen kann. Ich kenne das auch aus den russischen Migrantenmilieus. Das Problem ist, wenn die Menschen nach Deutschland kommen, leben sie zum Teil in ziemlich geschlossenen Communities. Sie konsumieren dort ihre eigenen Medien, beispielsweise die russischen Einwanderer das russische Staatsfernsehen über Satellit. Und dann gibt es noch die religiösen Netzwerke. Da muss man schauen, was läuft da schief. Wir reden viel über Integration, aber diese wird immer sehr eindimensional verstanden. Und auch je nachdem, wie in der Familie über solche Themen gesprochen wird, bekommen die Menschen vielleicht nur einzelne Wissensbrocken mit, die für eine fundierte Meinungsbildung unzureichend sind. Ein großes Problem beim islamistisch geprägte Antisemitismus sind die verschiedenen Netzwerke, die kritisches Gedankengut verbreiten können. Man muss schauen, wie sind die Islamverbände aufgebaut, was wird da gelehrt. Was nicht heißt, dass man die Religionsausübung einschränken sollte, auf keinen Fall. Es geht darum zu schauen, mit welchen Partnern die Regierungen, die Länder, die Gemeinden zusammenarbeiten. Es geht um gute Kooperationspartner für Aufklärungsarbeit. Die Türkisch-Islamische Union DITIB, bei der Verbindungen zur Muslimbrüderschaft bestehen, ist da beispielsweise kein guter Partner.
Immer wieder ist der Satz zu hören, „Es wird doch wohl noch erlaubt sein Israel zu kritisieren, ohne dafür gleich als Antisemit abgestempelt zu werden“. Was würden Sie darauf antworten?
Alexander Estis: Zunächst würde ich antworten, natürlich ist es erlaubt, wenn es nicht erlaubt wäre, würden das ja jetzt nicht 60 bis 70 Prozent der Menschen in Deutschland tun. Zunächst muss man dieses Opfer-Narrativ oder Zensur-Narrativ ganz klar widerlegen. Das ist ein Narrativ, das vor allen Dingen immer gerne von den Rechten bespielt wurde, dieses „man wird ja wohl noch sagen dürfen…“. Ich denke da auch an Günter Grass, der in seinem Gedicht „Was gesagt werden muss“ schreibt, „mit letzter Tinte…“ und so weiter, wobei er immer suggeriert, man dürfe etwas nicht sagen. Das ist ein klassisch rechtspopulistisches Narrativ, das erstaunlicherweise, aber vielleicht auch nicht erstaunlicherweise, jetzt auch von der linken Seite bespielt wird. Dieses ‚man dürfe Israel nicht kritisieren‘. Da muss man fragen, wieso es dann geradezu eine Flut an Israelkritik gibt. Also man darf es und man tut es auch. Eigentlich ist das ja alles bekannt. Es gibt Kriterien, an denen man sehen kann, wo Kritik an Israel antisemitisch wird. Ich möchte ein typisches Beispiel herausgreifen. Wenn Begriffe für Israel verwendet werden, die aus dem Nationalsozialismus stammen und von den Nazis verwendet wurden, wie zum Beispiel „Ghetto“, wenn jetzt also Gaza als Ghetto bezeichnet wird und Israel als ein Staat, der einen Holocaust an den Palästinensern verübt, oder wenn gesagt wird, die Israelis seinen die neuen Nazis, das sind klare Anzeichen dafür, dass hier an Verschwörungsmythen angrenzende antisemitische Täter-Opfer-Umkehrversuche stattfinden. Warum haben die Deutschen ein so besonderes Vergnügen daran, Israel und die Nachkommen der Opfer mit den Begriffen der Täter zu belegen? Das kann eigentlich nur eine psychologische Erklärung haben, nämlich dass dies eine entlastende Funktion hat, man entlässt sich aus dem eigenen Schuldbewusstsein.
Es gibt die Theorie in der Sozialpsychologie, dass wenn auf Großelternseite die Schuld nicht aufgearbeitet wurde, diese Schuldgefühle von den Nachkommen übernommen werden.
Alexander Estis: Wenn man solch ein transgenerationales Trauma hat, dann ist es auf gewisse Weise entlastend, wenn man sagen kann, „schaut euch doch die Israelis an, die sind doch selbst Nazis“. Das ist psychologisch deutbar, aber trotzdem unentschuldbar. Doch das sind die auffälligeren Beispiele für israelbezogenen Antisemitismus. Es gibt aber einen weiteren Aspekt. Selbst wenn man eine sachliche Kritik an Israels Politik und Militärstrategie vorbringt, dann ist dennoch der Kontext entscheidend. Wenn man sich erst zu diesem Thema äußert, nachdem Israels Gegenoffensive begonnen hat, und dann anfängt, Israel zu kritisieren, stellt sich die Frage, warum haben einen die Ereignisse am 7. Oktober offensichtlich gar nicht interessiert. Das kann natürlich unterschiedliche Gründe haben, es kann aber auch auf antisemitische Beweggründe zurückgehen. Wichtig ist auch zu sehen, ob Israelkritik instrumentalisiert wird. Etwa nach der Verhältnismäßigkeit der Gegenoffensive zu fragen, ist legitim und notwendig. Aber was macht man dann damit? Verlangt man dann von Israel, dass es sich wehrlos verhält, während weiterhin Raketen aus Gaza auf Israel abgeschossen werden? Diese Konsequenz bleibt oft unausgesprochen, schwingt aber mit. Da muss man im Einzelfall nachfragen, nachhorchen.
Sie haben einmal geschildert, wie eine Frau nach einer Lesung für Ihre Bücher schwärmte, dann aber hinzufügte, ob Sie denn wirklich immer sagen müssten, dass Sie jüdisch seien, da müsse sie gleich immer so viel nachdenken. Ist das Nicht-nachdenken-wollen das Problem?
Alexander Estis: Das Thema polarisiert, Menschen fühlen sich sehr schnell angegriffen. Und sie möchten auf keinen Fall als Antisemiten gelten, was verständlich ist. Nun ist der Mensch aber so beschaffen, dass er immer mal ziemlich üble Gedanken hat und vielleicht latent irgendwelche Feindseligkeiten. Im Bereich Antisemitismus ist es eben ziemlich oft etwas Latentes, Reflexe, die nicht ganz greifbar sind. Und nicht jeder Mensch, der solche latenten Gedanken hat, ist deshalb ein Antisemit. Aber es wäre schön, wenn man diese ganze Diskussion zum Anlass nimmt, sich zu fragen, ob es, auch wenn man kein manifestierter Antisemit ist, vielleicht doch die eine oder andere eigene Meinung gibt, die sich antisemitischer Narrative bedient, möglicherweise unbewusst. Zum Beispiel ob man hinter allen Übeln eine ominöse Hochfinanz vermutet. Und auch wenn man über Israel redet, gibt es Dinge, die da mitschwingen können, die überhaupt nichts mit der Faktenlage zu tun haben. Es wäre gut, wenn die Menschen etwas mehr darüber nachdenken könnten, anstatt sofort in die Schutzhaltung zu gehen und zu betonen, man sei kein Antisemit.
Interview: Barbara Breitsprecher
Das komplette Gespräch können Sie unter
www.barbarabreitsprecher.com lesen.