Es war für ihn nicht mehr auszuhalten, der Papagei zu sein, der ständig dasselbe sagt und dem gerade deshalb keiner wirklich zuhört. Lothar Wieler, der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI) hat also beschlossen, in seinen Aussagen schriller zu werden. Seine Sprachbilder sind drastisch. Das ist der Rede wert, weil in dem zögerlichen bis ängstlichen Sprachverhalten der meisten Politiker etwas steckt, was man Feigheit vor dem Covid-Feind nennen könnte.
Lothar Wieler wurde in den Zeiten der Pandemie oft und gerne von Corona-Leugnern verspottet. Seit nun bald zwei Jahren hat er dennoch die Ruhe bewahrt und in den vielen Pressekonferenzen mit Gesundheitsminister Jens Spahn (siehe Seite 13) einfach nur die Zahlen vorgetragen, die manche nicht hören wollten. Sehr nüchtern war das oft, fast schon technokratisch. Bis ihm jetzt der Kragen platzte.
Es war bei einer Online-Schalte mit Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), Wieler, im blauen Pullover, war zugeschaltet aus seiner Wohnung. Hinter der Zahl von 52.000 Neuinfektionen an diesem Tag würden sich „mindestens doppelt oder drei Mal so viele“ verbergen. Eben weil zuletzt viel weniger getestet wurde. Und er betonte: „Wir haben in den letzten Wochen eine Case-Fatality-Rate, also eine Rate von Meldungen zu Verstorbenen, von etwa 0,8 Prozent. Das heißt also, von diesen 52.000 heute Infizierten werden (…) 400 etwa sterben.“
Einmal in Rage sagte Wieler: „Und was mir wichtig ist, das müssen alle, die jetzt zuhören, ganz klar begreifen: Daran gibt’s nichts mehr zu ändern. Wir können das nicht mehr ändern. Diese Menschen sind ja infiziert. Davon gehen dann eben 3000 ins Krankenhaus, davon gehen ein paar hundert auf Intensiv, davon sterben eben so viele. (…) Niemand von uns, der hier sitzt, kann diesen Typen noch helfen. Das ist ein Eimer Wasser, der ist ausgeschüttet, den kriegen Sie nicht mehr rein. (…) Das Kind ist in den Brunnen gefallen.“
Natürlich ist es so, dass allgemeine Sprachbilder wie das des in den Brunnen gefallenen Kindes (grausig, oder?) oder des ausgeschütteten Eimers Wasser nun gar nicht dem wirklichen Elend auf den Intensivstationen gerecht werden. Die Not dort ist viel realer. Sie ist kaum in Worte zu fassen. Aber bemerkenswert an Wielers sprachlicher Kehrtwende ist ja auch nicht deren Genauigkeit, sondern deren durchaus provozierende Spitze.
Denn genau war Prof. Dr. Lothar Wieler ja immer, mit all den Zahlen und den Modellierungen des RKI. Der Adressat dieser mathematischen Genauigkeit war zum eher kleineren Teil die Öffentlichkeit, zum größeren Teil aber die Politik. Und deshalb sind die jetzt von ihm sprachlich ausgeschütteten Eimer Leben auch eher eine Botschaft an die verantwortlichen Politiker, denen Wieler zuvor all die genauen Zahlen und Hochrechnungen immer wieder ins Ohr geflüstert hatte, ohne damit etwas zu bewirken.
Schon am 22. Juli (!) hat das RKI ganz genaue Modellrechnungen vorgelegt, was wegen der hochansteckenden Delta-Variante im Herbst bei welcher Impfquote drohen könnte. Selbst bei einer Impf-Quote von 75 Prozent könne es demnach bis November – ohne Kontaktreduzierungen – zu über 6000 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen kommen. Schon damals warnte die Bundesbehörde: „Ein höherer Anteil an Impfdurchbrüchen oder von Reinfektionen könnte den Anteil schwerer Erkrankungen erhöhen. Das RKI riet daher am 22. Juli (!), „jetzt“ Auffrischimpfungen insbesondere für Ältere und Risikogruppen zu planen.
Hat aber keiner gemacht. Schaumschläger der Politik wie Markus Söder erdreisten sich sogar, frech und falsch zu behaupten, dass „die Wissenschaft“ die gefährliche Entwicklung nicht vorausgesagt habe, die derzeit über Deutschland hereingebrochen ist.
„Wie viele Menschen müssen denn noch sterben, damit wir unser Verhalten anpassen und damit die Krankenhäuser und das Pflegepersonal entlasten?“, so Wieler. Das Problem bei seiner Rhetorik: Ein ausgeschütteter Eimer Wasser ist schon leer, fünf nach Zwölf ist schon zu spät, die gestorbenen Menschen sind schon tot. Damit motiviert Wieler niemanden.Leider.