Der Mensch hat die Sprache. Und weil das so ist, entsteht der Eindruck, dass der Mensch ein rationales Wesen sei. Sprache suggeriert Vernunft. Mit Sprache lässt sich alles beschreiben. Sie ist so nicht nur die Grundlage für fast alle Errungenschaften der Menschen, sondern fördert auch die Illusion, dass der Mensch moralisch überlegen sei. Man glaubt, dass der Mensch nicht wie ein Tier impulsgesteuert sei, sondern für sein Tun eine vernünftige Erklärung habe. Eine, die man aussprechen kann. Wie der Krieg in der Ukraine zeigt, kann die Sprache auch Fassade sein, die dadurch die Wahrheit verbirgt. Nämlich die Tatsache, dass der Mensch nur so tut, als ob er rational handle, in Wirklichkeit aber von niedrigen Instinkten gesteuert wird.
Manchmal zeigt sich die Doppeldeutigkeit, die der Sprache innewohnen kann schon an einzelnen Worten. Das Wort „Kriegsverbrechen“etwa. Einerseits soll dies eine Definition unter Völkern und Menschen sein, was selbst im Krieg nicht erlaubt sei. Andererseits suggeriert das Wort aber auch, dass es einen „sauberen“ Krieg geben könne, wenn denn nur die Regeln eingehalten würden. Als ob ein Krieg nicht immer selbst ein Verbrechen sei. Als ob all die Menschen, die mit einem letzten Schrei auf den Lippen sterben, dies nach Regeln tun könnten, die irgendwie okay seien, falls sie Soldaten sind. Und deshalb wohnt dem Wort „Kriegsverbrechen“ etwas inne, das relativiert und somit den Anschein von rationalem Denken erweckt. Wäre eigentlich der finale Atomkrieg ein Kriegsverbrechen oder nur das reguläre Krepieren aller?
„Unmenschlich“ ist auch so ein Wort. Es will eigentlich ausdrücken, dass manche Taten niemals passieren dürften. Es will diejenigen anklagen und aus der Gemeinschaft der Menschen ausgrenzen, die „Unmenschliches“ tun. Aber das Wort verschleiert auch die schreckliche Wahrheit: Jedes „unmenschliche“ Tun im Krieg in der Ukraine wird von Menschen getan. Jede Bombe, die fällt, jede Rakete, die Wohnhäuser in Trümmern legt, jeder Schuss, der dort einen Menschen tötet, ist menschengemacht. Der erste Abwurf der Atombombe über Hiroshima wurde von Menschen verübt. Der Pilot, der „Little Boy“ abwarf und damit hunderttausend Menschen vor Hitze verdampft hat, taufte seinen Bomber mit dem Namen seiner Mutter. „Fat Man“ hieß dann die zweite Atombombe, die über Nagasaki gezündet wurde. Der Mensch hat die Sprache.
Wenn es nicht nur um einzelne Worte geht, deren untergründiges Wirken die Wahrheit verschleiert, dann bietet die Sprache auch noch die Möglichkeit, Wort für Wort Lügengebilde zu formen. Das nennt man dann „Desinformation“. Was natürlich jede sprechende Seite für sich beansprucht, ist die Wahrheit hinter den Worten. Oder umgekehrt: Die Lüge hinter den Worten der anderen Seite. Putin sprach beim Einmarsch seiner Truppen in die Ukraine von „Friedensmission.“ Lawrow behauptete später gar: „Wir haben die Ukraine nicht überfallen.“
Mit Sprache können alle möglichen Dinge gesagt werden, ohne dass die Aussagen stimmen. Die Sprache ist sozusagen losgelöst von der Wirklichkeit. Sie ist die Quelle jedweder Kreativität und erlaubt es dem Menschen Dinge zu erfinden, die das Tier nicht hat. Übrigens auch technisch, weil sprachliche Systeme wie die Mathematik auch die Grundlage sind für den Brückenbau, die Unterwasserkabel, das Auto, das Flugzeug, die Rakete und die Atombombe. Die Sprache bemächtigt den Menschen und macht ihn zu einem sozialen Wesen. Aber die Kehrseite der Kreativität ist die Destruktion. Alles, was Menschen erfinden, wird von Menschen angegriffen und zerstört.
Die Sprache selbst kann nie Wahrheit sein. Die Sprache ist nicht ein Schrei, im Krieg. Doch nur der Schrei wäre wahr.