Die folgende Frage scheidet die Geister, wenn nicht in alle Ewigkeit, so doch zumindest für die nächsten zehn Jahre: Ist Karl Lauterbach der „Ritter von der traurigen Gestalt“, Don Quijote, der gegen nur eingebildete Gegner kämpft, etwa gegen Windräder? Sicher ist jedenfalls, dass der Gesundheitsminister Karl Lauterbach ein Tempo bei Reformvorhaben vorlegt, dem der alte Gaul Rosinante nicht gewachsen scheint, auf dem er reitet. Neben den Kliniken will er die Apotheken reformieren, die Hausärzte stützen, die Notarztversorgung verbessern, die Pflegefinanzierung neu aufstellen. An acht Reformen arbeitet er gleichzeitig, vier weitere plant er. Nur: Abgeschlossene Projekte kann der Minister nach bald drei Jahren im Amt wenige vorweisen – und die sind noch dazu umstritten. Lauterbach will zu schnell zu viel. Ärzte, Pfleger, Apotheker und Klinikangestellte kritisieren ihn; eigentlich alle, die seine Reformen betreffen. Doch den tapferen Ritter Lauterbach beeindruckt das nicht. Er sagt: „Ein Gesundheitsminister, der auf den Applaus der Krankenkassen, der kassenärztlichen Vereinigungen und der Krankenhausgesellschaft wartet, ist am falschen Platz.“ Daran hält er sich auch bei seinem wichtigsten Projekt, dem Umbau der Kliniken. Und so hat der Bundestag mit der Ampel-Mehrheit den Gesetzentwurf zur Krankenhausreform verabschiedet. Die Kritik kommt vor allem aus den Ländern. Es droht sogar eine Verfassungsklage.
Dabei sich ja eigentlich alle einig, dass etwas passieren muss. Die Krankenhausreform ist dringend nötig; überfällig die Abkehr von den Fallpauschalen, die dazu geführt haben, dass viele Kliniken mehr machen, als für die Patienten gesund ist. Die explodierenden Ausgaben, aber auch das zunehmend knappe Fachpersonal zwingen die Politik, die Krankenhauslandschaft in Deutschland neu zu ordnen. Um im bisherigen Finanzierungssystem zu überleben, mussten die etwa 1700 Kliniken möglichst viele Patienten behandeln und dabei auch Eingriffe vornehmen, für die sie eigentlich weder personell noch technisch ausgerüstet sind. Die Fallpauschalen, die einst eingeführt wurden, um die Kosten der Kliniken zu dämpfen, haben eine ökonomisch getriebene Medizin gefördert, die heute niemand mehr will. Dem Wohl von Patientinnen und Patienten dient sie erwiesenermaßen auch nicht. Die Krankenhäuser brauchen Hilfe. „Wenn die Reform scheitert, kommt es 2025 zu einem beispiellosen Krankenhaussterben“, warnt Gesundheitsminister Lauterbach. Bereits in diesem Jahr dürften 70 Prozent der Häuser Verlust machen, zeigt eine Studie des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung RWI in Essen. Bereits 50 Kliniken in Deutschland mussten in den letzten zwei Jahren Insolvenz anmelden. Folglich ist die Reform an sich dringend nötig. Die Finanzierung der Krankenhäuser neu aufzustellen, war lange überfällig. Karl Lauterbach hat also ein Projekt angepackt, vor dem sich seine Vorgänger gedrückt haben. Das ehrt ihn. Er nennt das eine „Revolution“. Die Art und Weise, wie er das macht, könnte allerdings zum Stolperstein werden.
Was soll geändert werden?
Das Kernstück der Reform ist eine stärkere medizinische Spezialisierung. Vor allem die kleineren Krankenhäuser sollen künftig weniger Leistungen anbieten und sich auf jene Eingriffe beschränken, die sie gut beherrschen. Auf Patientinnen und Patienten könnten also längere Wege bis zum nächsten zuständigen Krankenhaus zukommen – sie sollen dafür aber eine bessere Behandlung bekommen. Hierzu sagte Christian Karagiannidis, Arzt und Mitglied der Regierungskommission Krankenhaus, der auch als Architekt der Reform gilt: „Oft ist die Versorgung schlecht: Die Sterblichkeit nach größeren Darmkrebseingriffen schwankt in Deutschland zwischen null und 20 Prozent, je nachdem, ob sie in spezialisierten Zentren gemacht wird oder nicht. Das ist absolut nicht hinnehmbar, dass bis zu jeder Fünfte nach einer Behandlung stirbt, obwohl er es nicht müsste. Die wichtigste Frage ist: Welche Krankenhäuser in Deutschland brauchen wir wirklich? Die müssen wir unterstützen.“ Der Bund will den Ländern nun also Qualitätsvorgaben machen, die Krankenhäuser in 65 verschiedenen Disziplinen, den sogenannten Leistungsgruppen, einhalten müssen – wie etwa Herzchirurgie, Leukämie oder Darmtransplantation. Welches Krankenhaus künftig welche Leistungsgruppen anbieten darf, entscheiden die Behörden der Länder. Die Kliniken müssen dafür aber ein bestimmtes Qualitätsniveau sowie ausreichend Personal nachweisen können. Nur wenn sie diese Kriterien erfüllen, sollen sie für die Behandlung bezahlt werden können.
Über Mindestvorhaltezahlen plant der Bund festzuschreiben, wie viele Fälle Kliniken in den verschiedenen Leistungsgruppen mindestens behandeln sollen. So soll gewährleistet sein, dass Patienten nur noch in Kliniken behandelt werden, die für den Eingriff ausgerüstet sind und deren Personal über genug Know-how und Erfahrung verfügt.
Was sind die Kritikpunkte an der Reform?
Wenig überraschend hat sich Gerald Gaß, Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft, eines Interessenverbands von Klinikträgern, kritisch zu Wort gemeldet. Er fürchte erhebliche Einschränkungen bei der Versorgung. Denn die Vorhaltepauschalen seien an eine Mindestzahl von Patienten gebunden. „Aus betriebswirtschaftlichen Gründen werden die Kliniken gezwungen sein, nur so viele Patienten zu behandeln, dass sie gerade noch die Pauschale erhalten – mehr aber nicht“, sagte Gaß. Eine Wartelisten-Medizin sei die Folge. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft spricht von einem „Blindflug“, weil Lauterbach bis zum Tag der Abstimmung keine Analyse vorgelegt habe, wie seine Reform in der Praxis wirkt.
Die hauptsächliche Kritik kommt aus den Ländern, naturgemäß von jenen, in denen die Union regiert. Nordrhein-Westfalens Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) sagt, er sei „sauer“, weil Berlin mit dem Gesetz in seine Entscheidungsbefugnisse eingreife. Die Berücksichtigung länderspezifischer Gegebenheiten seien „nicht im ausreichenden Maß möglich“, kritisiert Kerstin von der Decken (CDU), die Gesundheitsministerin von Schleswig-Holstein. Zur Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung gerade in ländlichen Regionen seien „Gestaltungsspielräume der Landesbehörden notwendig“. Bayerns Gesundheitsministerin Judith Gerlach (CSU) hat angekündigt, im Bundesrat darauf zu dringen, den Vermittlungsausschuss anzurufen. Passiert das, müsste neu über die Reform verhandelt werden – was angesichts der Bundestagswahl im kommenden Jahr ihr Ende sein könnte.
Am 22. November geht das Gesetz in den Bundesrat. Dort ist es zwar nicht zustimmungspflichtig, aber mehrere Länder haben gedroht, den Vermittlungsausschuss anzurufen. Das könnte auf unbestimmte Zeit verzögern, dass die Reform in Kraft tritt. Voraussetzung für die Einsetzung eines Vermittlungsausschusses ist allerdings eine Zweidrittelmehrheit im Bundesrat.
Was ist an der Finanzierung strittig?
Der strittigste Punkt bei Lauterbachs Reform ist deren Finanzierung. Sie soll 50 Milliarden Euro in den kommenden zehn Jahren kosten. Tragen sollen die Kosten zur Hälfte die Länder und der Bund. Weil Letzterem das Geld fehlt, will Lauterbach die gesetzlichen Krankenkassen zahlen lassen. Die halten das für verfassungswidrig: Die Beiträge der Versicherten seien für die medizinische Versorgung gedacht, nicht für einen Umbau. Die Reform wird auch deshalb so teuer, weil die Politik sie verschlafen hat. Sowohl die Bundesregierung, die sich da nicht früher herangetraut hat. Als auch die Bundesländer, die viel zu lange zu wenig in die Kliniken investiert haben. Doch hochproblematisch bleibt: Weil der Regierung das Geld für die Reform fehlt, lässt sie die Versicherten zahlen. Ihre Beiträge werden steigen. Vermutlich schon im nächsten Jahr. Lauterbach plant einen massiven Umbau, überlässt die Rechnung aber anderen, nämlich den Ländern und den Krankenkassen. Wenn ihm da mal nicht das Bundesverfassungsgericht einen Strich durch die Rechnung macht.