Ein Mensch schickt hunderttausende Menschen los, die andere Menschen töten sollen oder auch selbst getötet werden. So ist das passiert, am 24. Februar 2022. Der Irrsinn, der darin liegt, wird durch die Sprache eingehegt. Wenn „Soldaten“ losziehen, dann klingt es nicht mehr ganz so schlimm – als wären Soldaten keine Menschen. Wenn gar von einer „militärisch-technischen Aktion“ die Rede ist – vonseiten Russlands – dann soll das nach Rationalität statt nach Irrsinn klingen. Seit dem Tag des Kriegsbeginns in der Ukraine wird auch in den Medien oft eine Sprache benutzt, an der kein Blut klebt. Klar will man distanziert über Tod und Verderben berichten, um überhaupt Informationen vermitteln zu können. Aber es bleibt unfassbar, dass Menschen rücksichtslos morden sollen und es dann auch tun, weil ein repressiver Herrscher wie Putin das so will.
Das ist skrupellos und grausam, auch gegenüber den oft jungen Männern, die in den russischen Uniformen stecken. Erst recht gegenüber jenen Menschen, die in ihrem eigenen Land brutal überfallen werden – in ihren Häusern, auf ihren Straßen und Plätzen, in ihrer Heimat, die sie verlieren. Wie konnte das zuvor Undenkbare wirklich geschehen? Ein blutiger Angriffskrieg mitten in Europa im Jahr 2022 ist menschenverachtend. Und wer dazu den Befehl erteilte, ist ein gefühlloses Monster. Weil er das offenbar selbst spürt, hat Wladimir Putin sich noch tiefer in eine Scheinwelt verabschiedet.
Als Putin die Maske fallen ließ
Viele Jahre lang galt Putin dem Westen als ein zwar eiskalt berechnender autokratischer Herrscher, der aber in gewissem Sinne „vernünftig“ handelte, nach rationalen Maßgaben eines Machtmenschen. Und selbst als er hunderttausende Soldaten an den Grenzen zur Ukraine aufmarschieren ließ, konnte man noch denken, dass er damit nur Druck aufbauen wollte, um Verhandlungsergebnisse zu erreichen. Ja, man konnte es noch so sehen, dass Putin mit der Umzingelung der Ukraine dem Westen ein Spiegelbild dessen vorhalten wolle, wie sich Russland angesichts der Osterweiterung der Nato fühle. Man konnte Putin noch als rationalen Schachspieler interpretieren, der seinen Interessen Nachdruck verleihen wollte.
Am Vorabend des Überfalls auf die Ukraine ließ Putin seine Maske fallen. In einem Monolog voller Hass gegenüber dem Westen, der USA und der Nato, sprach er der Ukraine ihr Existenzrecht als freier, unabhängiger Staat ab. Er war dabei bleich und vor Emotionen zitternd. Da war nichts mehr von dem Bild des kühlen Berechners übrig. Da sprang Putin die eigene Aggression wie ein Tier ins Gesicht, während er von der angeblichen Aggression des Westens fabulierte. Da war mit einem Mal klar, dass Putin nicht vernünftig handeln würde. Und so fiel es manchem Putin- Versteher von früher wie Schuppen von den Augen, dass dieser Mann nie der gewesen war, für den man ihn hielt.
Wie der Angriffskrieg alles änderte
Als in der Nacht zum 24. Februar 2022 die Raketen auf ukrainisches Gebiet abgefeuert und die Truppen Russlands (ja, das sind immer noch lauter meist junge Menschen, die offenbar teilweise noch nicht einmal wussten, was sie da taten), in ihren Panzern in die Ukraine einfielen, war das eine Zäsur auch für die Interpretation von Putins Politik. Ab diesem Moment wussten alle, dass Putin seinen Krieg längst geplant hatte, als er mit US-Präsident Biden, Frankreichs Staatschef Macron und Bundeskanzler Scholz über Schritte zum Frieden verhandelte.
Es wurde offensichtlich, dass Putin nicht derjenige ist, dessen Sorgen wegen einer (von ihm selbst suggerierten) Aggression des Westens man ernst nehmen müsse. Sondern derjenige, der selbst die Aggression in die blutige Tat umsetzte. Sogar vielleicht derjenige, der den dritten Weltkrieg auslöst.
Die Propaganda, die sich selbst entlarvt
In der Nacht des Kriegsbeginns ließ Putin dann wieder jene Propaganda vom Stapel, die sich im Grunde selbst entlarvt. Er habe den Angriff (so nannte er selbst es natürlich nicht) befohlen, um die Ukraine zu „entnazifizieren“. Daraufhin hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sich später in einer TV-Ansprache direkt an die Bürger Russlands gewandt. Auf Russisch – seiner Muttersprache – sagte der ukrainische Staatschef: „Man sagt Ihnen, wir [Ukrainer] seien Nazis. Aber kann denn ein Volk, das mehr als acht Millionen Menschen im Kampf gegen den Nationalsozialismus verloren hat, den Nationalsozialismus unterstützen?“ Nach einer kurzen rhetorischen Pause sagte er: „Wie kann ich ein Nazi sein? Erklären Sie das mal meinem Großvater, der den ganzen Krieg in der Infanterie der sowjetischen Armee mitgekämpft hat und als Oberst in einer unabhängigen Ukraine gestorben ist.“ Der ukrainische Präsident erwähnte in der Rede indirekt, dass er Jude ist. Drei Brüder seines Großvaters wurden im Holocaust ermordet.
Die Propaganda-Lügen Putins sind dennoch in Russland verbreitet, ganz einfach, weil es eine weitgehende Zensur der Medien gibt. Offensichtlich will Putin mit der Legende der „Entnazifizierung“ einfach nur an den Sieg gegen Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg erinnern. Das lenkt dann bestens davon ab, dass Putin und Russland nun selbst zu jenem Aggressor geworden sind, der Hitler als Auslöser des Zweiten Weltkriegs war.
Die Drohung mit Atomwaffen
Da Putin offensichtlich davon beseelt ist, sich in den Geschichtsbüchern zu verewigen, kann es durchaus sein, dass Menschenleben für ihn nichts mehr zählen. Leben seiner von ihm auserkorenen Feinde (also „der Westen“) sowieso nicht. Aber womöglich auch nicht einmal mehr die Leben der Menschen in seinem Land. Denn im Falle des von ihm angedrohten Einsatzes von russischen Atomwaffen würden solche als Vergeltungsschlag wohl auch in Russland explodieren. Die Eskalation „dritter Weltkrieg“ läge dann nicht mehr ferne. Und ja, das wäre die Apokalypse. Das absolute Grauen. Das Ende der Menschheit, nachdem ja die Menschlichkeit schon lange auf der Strecke blieb.
Dennoch scheute Putin vor der Drohung mit Atomschlägen nicht zurück. Gleich nach dem Befehl zum Angriffskrieg gegen die Ukraine warnte Putin den Westen vor „Einmischung“ und drohte mit „Konsequenzen, die Sie in ihrer Geschichte noch nie erlebt haben.“
Noch furchterregender war dann aber seine Begründung, mit der er die Atomstreitkräfte seines Landes in Alarmbereitschaft versetzte. Da sagte er doch tatsächlich, wieder per Videoaufnahme: „Die Spitzenpersönlichkeiten der führenden Nato- Staaten lassen aggressive Äußerungen gegen unser Land zu, deshalb befehle ich …“
Nochmal zum Nachlesen: Ein Mann, der einen blutigen Angriffskrieg entfacht hat, findet die „aggressiven Äußerungen“ (also Worte, nicht Bomben) des Westens so bedrohlich, dass er mit dem Einsatz von Atombomben droht. Okay, das sind zunächst auch nur Worte. Aber nach all seinen Lügengeschichten im Vorfeld seines Angriffs auf die Ukraine traut man Putin alles zu. Vielleicht sogar den Größenwahn, einen Atomkrieg gegen die Nato und die USA „gewinnen“ zu können. Wahrscheinlicher ist aber, dass seine Drohungen zum Kriegskalkül dazu gehören.
Die Mär von der „Verteidigung“ Russlands
Putin und Co. haben viel davon gesprochen, dass sich Russland durch die Osterweiterung der Nato in seinen berechtigten Sicherheitsinteressen bedroht sieht. Ja, solange man darüber sprach, konnte man das nachvollziehen. Obgleich dabei die ganz große Frage im Raum stand: Wer bitteschön sollte denn eine der größten Atommächte der Welt angreifen wollen? Und seitdem Russland nicht mehr sprach, sondern seine Raketen auf die Ukraine abfeuerte, ist die Mär von der „Verteidigung“ Russlands demaskiert. Denn es sind Häuser, Dörfer, Städte in der Ukraine, die brutal in Schutt und Asche zerlegt werden – es sind nicht russische Städte und es sterben nicht die Zivilisten in Russland. Alles Leid spielt sich in der Ukraine ab, etwa in Kiew und nicht in Moskau. Sieht so „Verteidigung“ aus?
Olaf Scholz sagte im Bundestag über Putins Gründe für den blutigen Angriffskrieg: „Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime in Frage. Das ist menschenverachtend. Das ist völkerrechtswidrig. Das ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen.“
Das ganz große Grauen
Wie kann ein Mensch wie Putin verdrängen, dass auf seinen Befehl hin so viele Menschen sterben? Die Geschichte der Menschheit kennt solche „Kriegsherren“. Am Ende sind sie meistens gescheitert. Aber der Wahn bleibt in der Welt.