Es gibt genau zwei Lesarten über die große Frage, die Deutschlands Blätterwald beschäftigt: Ist Kanzler Olaf Scholz ein unfassbarer Sturkopf, der den Medien immer dann extra eine Nase dreht, wenn diese etwas von ihm wissen wollen? Oder dichten umgekehrt die Medien ihm diese Eigenschaft an, weil sie nicht immer alles sofort von ihm erfahren, was sie gerne wüssten? Hat Scholz nun also genau durch seine sture Haltung einen großen Erfolg erreicht, weil er dadurch bei der Lieferung schwerer Panzer auch die USA ins Boot holte? Oder haben die USA umgekehrt den deutschen Zauderer Scholz mit der symbolischen Zusage, auch 30 Abrams-M1-Kampfpanzer zu schicken aus seiner selbstgewählten Ecke heraus gelockt?
Der Dauerbrenner war ja die angebliche Sturheit von Scholz bei der Lieferung von Panzern an die von Russland angegriffene Ukraine. Hier wurde in den Medien, gerne auch aufgegriffen und befeuert von der Opposition, der Eindruck erweckt, als sei Scholz zu unentschlossen und würde aus lauter Sturheit immer erst dann etwas tun, wenn es gar nicht mehr anders geht. Aber ist dieses Bild sachgerecht?
Kanzler Scholz selbst hat hier immer klar kommuniziert, nach welchen Kriterien er entscheidet: Hilfe für die Ukraine, solange nötig. Nicht selbst zur Kriegspartei werden. Und deshalb keine Alleingänge bei der Lieferung schwerer Waffensysteme. Das klingt plausibel.
Wenn man bedenkt, dass Deutschland ja mit der Lieferung von Waffen in ein Kriegsgebiet nun gerade und ausgerechnet unter dem SPD-Mann Scholz eine historische Wende vollzog, also in der von ihm so genannten „Zeitenwende“ das zuvor über Jahrzehnte Unvorstellbare tat, scheint es seltsam, den Kanzler hier als Sturkopf hinstellen zu wollen. Scholz weist nicht zu Unrecht darauf hin, wie viel Deutschland bereits an militärischem Gerät an die Ukraine geliefert hat, womit man sich zu einem der wichtigsten Helfer entwickelte. Das stimmt einfach. Klar gibt es Stimmen, die in der vorsichtigen Haltung von Scholz den „Bremsklotz“ sehen wollen. Doch die Frage ist natürlich, was damit überhaupt gemeint ist. Denn freie Fahrt für tödliche Waffensysteme kann ja nun auch nicht der Selbstzweck sein.
Elf Monate nach Kriegsbeginn erklärte sich Bundeskanzler Olaf Scholz nun ja nach langem Ringen dazu bereit, dass Deutschland sowohl anderen Staaten die Lieferung von Leopard-Kampfpanzern erlaubt als auch selbst zunächst 14 Panzer vom Typ Leopard 2A6 liefert. Damit bildet sich eine Allianz. Polens Präsident Andrzej Duda hatte verkündet, man wolle der Ukraine 14 „Leopard“-Kampfpanzer überlassen. Von den 14 europäischen Staaten, die „Leopard“-Panzer besitzen, haben neben Polen auch Finnland, die Niederlande und Spanien ihre Bereitschaft zur Lieferung von Kampfpanzern geklärt.
Wegen der Tragweite und der fehlenden eigenen nuklearen Absicherung Deutschlands hatte Scholz darauf gedrungen, dass auch die USA sich an einer internationalen Panzerallianz beteiligen. Obwohl anfangs skeptisch, plant die Regierung von US-Präsident Joe Biden rund 30 M1-Abrams-Kampfpanzer zu liefern, allerdings nicht sofort. Es handelt sich somit um eine politische Zusage, um dem Wunsch von Scholz zu entsprechen.
Was bereits vor dem „Leo“ geliefert wurde
Der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius wies im Umfeld des Treffens der sogenannten „Ukraine-Kontaktgruppe“ (das meint 50 Länder, die sich auf Einladung und unter Führung des US-Verteidigungsministers Lloyd Austin auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein trafen) darauf hin, was Deutschland bereits leistete und weiter im „Frühjahrspaket“ zugesagt hatte. Rund 3,3 Milliarden Euro an militärischer Unterstützung hat Deutschland schon vor der Zusage der „Leopard“-Panzer geleistet. Pistorius sagte, dass die Luftverteidigung hohe Priorität habe und Deutschland neben einer „Patriot“-Batterie ein weiteres „Iris-T-SLM“-Luftverteidigungssystem sowie sieben weitere „Gepard“-Panzer zur Flugabwehr geliefert werden. Insgesamt könne die Ukraine dann 37 „Gepard“ aus Deutschland einsetzen. Außerdem wurden zuletzt auch 40 „Marder“-Schützenpanzer zugesagt, zu deren Nutzung noch im Januar mit der Ausbildung ukrainischer Soldaten begonnen werden soll.
Somit war Deutschland damit hinter den USA und (nahezu gleichauf mit) Großbritannien der drittgrößte Lieferant von Waffen an die Ukraine. Darunter längst auch moderne und hoch effektive Waffensysteme wie beispielsweise die „Panzerhaubitze 2000“, die auch laut dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij einen entscheidenden qualitativen Unterschied machen. Übrigens: Die USA hat der Ukraine Militärhilfe im Wert von 25 Milliarden Euro geleistet, schon bevor jetzt die Lieferung von Abrams-Panzern publik wurde.
Wo die Kritik an Scholz ausuferte
Es mutet seltsam an, dass angesichts dieser Fakten so manche Kritik an Kanzler Olaf Scholz regelrecht ausuferte. Etwa von der Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP). Sie hatte nach dem Ramstein-Treffen im ZDF-heute journal erklärt: „Die Geschichte schaut auf uns, und Deutschland hat leider gerade versagt.“ Die Kommunikation insbesondere von Scholz in dieser Frage sei eine Katastrophe. Die Haltung Deutschlands sei „einfach nur beschämend“. Ist es wirklich an der FDP-Frau zu beurteilen dass „Deutschland versagt“ habe? Sollte sie dies im Kontext weltweiter Aufmerksamkeit dem Kanzler (mit dem die FDP ja immerhin eine Koalitionsregierung bildet) so vor die Füße zu werfen? Und vor allen: Warum? Was sollte das bringen? Man könnte wohl durchaus sagen: Die Kommunikation der strammen Strack-Zimmermann hat auch so ihre Tücken.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass auch bei den Grünen die überwiegende Haltung war, dass „Leopard 2“-Panzer an die Ukraine geliefert werden sollten und auf jeden Fall Drittstaaten eine Erlaubnis zur Lieferung dieser Panzer aus deutscher Produktion erteilt werden solle. So hat Bundesaußenministerin Annalena Baerbock im französischen Fernsehen angekündigt, dass Deutschland den Export von Leopard-Panzern von Drittstaaten an die Ukraine nicht blockieren würde. „Wir wurden bisher nicht gefragt, und wenn wir gefragt würden, würden wir dem nicht im Wege stehen“, sagte die Grünen-Politikerin dem TV-Sender LCI. Tja, und so kam es nun ja auch.
Auch die Opposition ging mit Scholz scharf ins Gericht: „Scholz hat Deutschland in Europa weiter isoliert“, sagt etwa Roderich Kiesewetter, Sicherheitsexperte der Unionsfraktion. Auf den CDU-Politiker wirke es, als wolle Scholz nicht, dass die Ukraine gewinnt. Scholz habe die USA brüskiert und spiele damit Putin in die Hände, kritisierte Kiesewetter. „Stattdessen treibt die fehlende oder seltsam wirkende Haltung der Bundesregierung, die Weigerung Verantwortung und Führung zu übernehmen, eine Spaltung Europas voran.“
Nachdem Olaf Scholz nun aber die USA mit in der Panzer-Allianz hat und außerdem viele der europäischen Verbündeten ebenfalls Panzer liefern wollen, scheint diese Mär vom feigen Scholz widerlegt. Geht manchmal schnell!
Warum das Schweigen seltsam wirkt
Die vorsichtige Haltung von Scholz ist nicht das Problem. Dies kann ein Abwägungsprozess sein, der nachvollziehbar ist.
Das Problem dabei ist allerdings das große Schweigen des Kanzlers gegenüber der Öffentlichkeit, für die er ja im Amt steht. Was spräche denn wirklich dagegen, etwas mehr Transparenz walten zu lassen? Man wüsste ja gerne, was es denn nun ist, das Scholz für gute Gründe gegen eine Lieferung der Leopard 2-Panzer gehalten hat. Denn diese könnte es ja durchaus geben, aber dann taugen sie nicht als Geheimnis des Olaf Scholz, sondern sollten erläutert werden.
Die Medien stellen es immer wieder und immer mehr so dar, dass Scholz sozusagen als Typ einfach stur sei und sich aus Prinzip „nicht treiben“ lassen wolle. Sie kritisieren das als ein Selbstzweck einer Person, die außerdem auch noch Kanzler in Deutschland ist. Eines ist sicher: An dieser Darstellung, selbst wenn sie falsch sein sollte, trägt Scholz mit Verantwortung. Und das ist eher Schwäche als Stärke.
Was das Kalkül von Scholz sein könnte
Es kann natürlich auch sein, dass Scholz seine Rolle als Zauderer ganz bewusst spielt. Denn es ist ja so, dass die Bevölkerung in Deutschland nahezu zur Hälfte die Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine ablehnt (43 Prozent sind dagegen, 46 Prozent dafür). Wenn Scholz also überlegt haben sollte, wie er einerseits die Waffen liefern könnte, ohne andererseits die Gegner eines solchen Vorgehens auf die Palme zu bringen, dann verkauft er sich als ein Kanzler, der sorgfältig abwägt und eher zögert als voran prescht bei der eigenen Bevölkerung ganz gut. Es könnte in diesem Sinne sogar sein, dass Olaf Scholz die Medien einspannt, die ihn so brüsk zu kritisieren glauben. Vielleicht ist Scholz jener Sturkopf, den viele aus ihm machen wollen. Oder er ist ein Schlaukopf, der das so will.