Vorhang auf, Scheinwerfer an: Corona ist zurück auf der Bühne, sagt Karl Lauterbach. Oder ist es umgekehrt? Ist es Lauterbach, der zurück zu größerer Aufmerksamkeit finden will, mit Corona im Handgepäck? Darüber scheiden sich die Geister, die in den letzten zwei Jahren gerufen wurden und nun nicht mehr weichen wollen. Ist Karl Lauterbach eine Art moderner Don Quijote, der gegen Windmühlen kämpft, weil er sie für feindliche Riesen hält, nur dass es das winzige Corona-Virus ist, gegen das Lauterbach als der Ritter von der traurigen Gestalt ins Feld ziehen muss? Der Gesundheitsminister sagt ja von sich selbst: Er empfinde es „als eine ärztliche Verpflichtung, nach meiner Überzeugung zu handeln. Auch wenn ich dann für manche die Nervensäge bin.“ Und er räumt auch ein: „Im Team Vorsicht gehen mir die Mitstreiter langsam verloren. Das ist so.“ Aber was ist, wenn der Mann ganz einfach Recht hat?
Ein offensichtliches Beispiel: Nach dem Oktoberfest haben sich die offiziell gemeldeten Infektionszahlen in München mehr als vervierfacht und die Zahl der Corona- Patienten in den Krankenhäusern verdoppelt. War es das wirklich wert? „Die Fallzahlen steigen, die Todeszahlen steigen, die Intensivstationen sind in einigen Bereichen schon überlastet“, sagte dann Lauterbach bei der Vorstellung seiner Impfkampagne mit dem Titel „Ich schütze mich“. Diese sei keine Angstkampagne. „Es geht darum, dass wir als Gemeinschaft zusammenhalten.“ Bei dieser Gelegenheit appellierte der Gesundheitsminister an die Länder: „Je früher man auf die Bremse tritt, desto sinnvoller ist es, weil wir lange auf der Bremse treten müssen.“ Sinnvoll wäre, mit geringeren Einschränkungen jetzt zu arbeiten, statt mit sehr drastischen spät zu reagieren.
Die Frage der Gewichtung, gestern, heute und morgen. Spinnen alle, außer Lauterbach?
Überall in der Welt (außer in China, aber dort womöglich aus ganz anderen Gründen) wurde zuletzt Entwarnung gegeben. US-Präsident Joe Biden erklärte kürzlich kurzum die Corona-Pandemie für beendet, auch wenn man schon noch weiter Probleme mit Corona habe. Die meisten europäischen Nachbarn haben alle Corona-Maßnahmen fallen gelassen. Und auch in Deutschland setzte sich ja Justizminister Marco Buschmann von der FDP weitgehend bei der Neufassung des Infektionsschutzgesetzes durch, das seit Oktober gilt. Denn dieses neue „Infektionsschutzgesetz“ verdient den Namen nicht, den es trägt. Absolut sicher ist jedenfalls, dass dieses Gesetz nicht dazu taugt, Bürger in Deutschland vor Infektionen mit dem Corona-Virus zu schützen. Eher schon soll es wohl die Gesellschaft insgesamt vor der Unbill schützen, die Corona-Infektionen wirtschaftlich, kulturell und sozial so anrichten können: keine Lockdowns, keine Schulschließungen soll es künftig geben. Und überhaupt möglichst wenig Eingriffe in das Leben und Streben der Bürger. Ganz böse Zungen könnten wohl auch behaupten, dass dieses „Infektionsschutzgesetz“ im Grunde dafür da ist, dass Infektionen mit Corona so gut geschützt wie möglich ihrer freien Entfaltung nachgehen sollen. Denn hinter allem steckt doch der Gedanke, dass mittlerweile durch die vielen Ansteckungen zusätzlich zu den Impfungen fortlaufend eine gewisse Grundimmunität in der Bevölkerung geschaffen sei. Die neue Botschaft, wenn auch unausgesprochen, lautet: Wer sich nicht impfen ließ und stirbt, ist selbst schuld.
Wie geht Lauterbach mit seiner Kampagne vor?
Deutschland sei auf den Corona-Herbst insgesamt „eigentlich sehr gut vorbereitet“, sagte Lauterbach. Es gebe fortentwickelte Impfstoffe, die genau auf die derzeitige Omikron-Variante passten. Mit der neuen Kampagne solle mehr für das Impfen geworben werden, „was jetzt auch notwendig ist“, sagte Lauterbach.
In der Kampagne, so Lauterbach, würden 84 „echte Personen“ von ihrem Schicksal, etwa auch zu länger anhaltenden Gesundheitsbeschwerden nach Infektionen (Long Covid), berichten. Es gebe lustige und „nicht so lustige“ Motive in der Kampagne. Geplant sind Veröffentlichungen in allen Medien. Übrigens haben Bürger über 60 Jahren kürzlich auch einen Brief von Lauterbach erhalten, um sie für eine weitere Impfung zu begeistern. Unterm Strich heißt das, dass Lauterbach eher mit dem werben will, was man tun könne als immer nur „die Nervensäge“ zu sein. Und er hat eben auch erkannt, dass das zuletzt quasi verschwindende mediale Interesse durch eine neue Werbekampagne entflammt werden muss. Man kann ihm hier abnehmen, dass es ihm keineswegs um ihn selbst ging (also Talk-Show-Guru und so), sondern schlicht um die Erkenntnis, dass der Krieg in der Ukraine und die Energiekrise in Deutschland die Nachrichten und die Sorgen der Menschen bestimmen und deshalb die noch immer real existierende Gefahr einer Corona-Infektion von der Bildfläche verschwand.
Was sind die Fakten, trotz aller Verdrängung?
Die Fakten bezüglich der konkreten Gefahr durch Corona sind oft anders als es öffentlich wahrgenommen wird. Dies funktioniert nach dem Motto: Es darf nicht sein, was nicht sein soll. Also Augen zu und durch! Fußballspiele, Live-Festivals, Feiern ohne Ende, Oktoberfest mit sechs Millionen Besuchern. Masken ab im Einzelhandel und im Supermarkt, einem gewissen Herdentrieb folgend. Wer derzeit in Bus, S- oder U-Bahn unterwegs ist, erlebt mit, dass sich dort immer weniger Menschen an die Maskenpflicht halten. Die von der FDP so gerne beschworene Eigenverantwortung führt ganz offensichtlich zum kollektiven Verdrängen. Sprichwort: „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.“ Corona, war das nicht so ein Ding von gestern? Aber dann das: Im Juli 2022, als eben das neue „Infektionsschutzgesetz“ zwischen Marco Buschmann und Karl Lauterbach verhandelt wurde, starben 2839 Menschen an oder mit Corona. Zum Vergleich: Im Juli 2020 starben136 Menschen infolge einer Covid-19-Erkrankung, im Juli des Jahres 2021 waren es 274 Menschen. Es handelte sich demnach um einen riesigen Sprung, ganz real, im Sommer in Deutschland. Und dieser stand sozusagen diametral dem Eindruck entgegen, den die Menschen im Sommer haben wollten: „Omikron ist doch viel ungefährlicher!“
Pustekuchen. Das RKI schrieb: „In der fünften Welle kam es trotz mehrheitlich vergleichsweise milder Erkrankungsverläufe aufgrund der hohen Infektionszahlen wieder zu einem Anstieg der Todesfälle.“ Im Klartext heißt das doch: Wäre das Infektionsgeschehen durch entsprechende Maßnahmen und vor allem durch das damit verbundene Bewusstsein in der Öffentlichkeit nicht so explodiert, wäre der Anstieg der Todesfälle zu vermeiden gewesen. Aber weil das nicht populär ist, wurde diese Tatsache unter den Teppich gekehrt. Da fragt man sich schon, was darüber all jene denken, die in den vergangenen beiden Jahren womöglich ihre wirtschaftliche Existenz verloren haben, weil da im Unterschied zu heute harte Maßnahmen ergriffen wurden. Damals mit dem Argument, das jeder Corona-Tote einer zu viel ist.
Mitte Oktober forderten die Krankenhäuser in Deutschland die rasche Wiedereinführung der Maskenpflicht in Innenräumen. Angesichts der hohen Corona-Infektionszahlen stünden die Kliniken „mit dem Rücken zur Wand“, sagte der Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Gerald Gaß. Außerdem starben im Oktober noch immer über 150 Menschen jeden Tag an oder mit Corona. Jeden Tag! Das ist halt nur medial völlig unbeachtet geblieben. Als wäre das nichts. Seltsam!
Was nervt Lauterbach daran, und zwar zurecht?
Lauterbach kritisierte die „Verharmlosung“ bei der Diskussion um Todesfälle im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion. Ob jemand „mit“ oder „an“ Corona gestorben sei, werde von Laien falsch bewertet. „Denn wenn ich mit Corona sterbe, kann es trotzdem so sein, dass ich ohne die Corona-Infektion nicht gestorben wäre“, sagte der Minister. „Das kriegen viele nicht auseinander. Die denken dann, mit Corona gestorben bedeutet, der wäre sowieso gestorben.“ Zudem steige durch eine Corona- Infektion auch die Wahrscheinlichkeit, an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu sterben. „Derjenige, der jetzt Corona gehabt hat und sechs Monate später an einem Herzinfarkt stirbt, der kommt nie in die Corona-Statistik“, sagte Lauterbach. Die müssten aber eigentlich auch gezählt werden, denn der Mensch wäre ohne die Infektion nicht gestorben, sagte er.
„Es wird immer so weitergehen“, prophezeite Lauterbach. „Die Richtung, in die wir unterwegs sind, ist keine gute.“ Vermutlich sagt er nur die Wahrheit, die keiner hören will. Bezüglich des neuen Infektionsschutzgesetzes ist Lauterbach der Ritter der traurigen Gestaltung. Die Windmühle hieß Buschmann.