Die Rede von US-Präsident Joe Biden vor dem Warschauer Schloss hat ihren Platz in den Geschichtsbüchern sicher. Und dies vor allem, weil Biden darin weit über seine Zeit als US-Präsident, vielleicht sogar weit über seine Lebenszeit hinaus weist. Biden warnte, dass Putins Angriff auf die Ukraine dem europäischen Kontinent womöglich Jahrzehnte des Krieges zurückbringe. Er zog einen großen Kreis vom Kalten Krieg über den Zerfall der Sowjetunion bis hin zu Putins Krieg. In den vergangenen 30 Jahren „haben sich die Kräfte der Autokratie überall auf der Welt wiederbelebt“, sagte Biden, „mit Verachtung für die Herrschaft des Gesetzes, für demokratische Freiheiten und die Wahrheit selbst.“ Der Kampf gegen Putins Russland sei daher „ein großer Kampf für die Freiheit, ein Kampf zwischen Demokratie und Autokratie“, so Biden.
Joe Biden hat Wladimir Putin nie vertraut. Schon 2015 war ihm als Vize-Präsident die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel „nicht energisch genug“, als es ihm nach Putins Krim-Annexion um härtere Konsequenzen ging. Zu sehr habe Merkel sich um die wirtschaftlichen Auswirkungen in Deutschland gesorgt. So schreibt es Biden in seiner Autobiografie. Er habe sich schon damals um die Sicherheitsarchitektur von ganz Europa gesorgt: „Ich war davon überzeugt, der Ausgang der Ukrainekrise würde den Ton in Mittel- und Osteuropa für Jahrzehnte vorausbestimmen – zum Guten oder zum Schlechten.“ Dies schrieb Biden also schon 2015. Und 2022 steht es mehr als schlecht: In Putins Angriffskrieg gegen das ukrainische Volk sind schon jetzt viele Tausend Menschen gestorben, mehr als zehn Millionen sind auf der Flucht. Mit der Ukraine steht auch Europa am Scheideweg, ja sogar die Sicherheitsordnung der ganzen Welt. Man kann Joe Biden zugestehen, dass er diese extrem gefährliche Krise hat kommen sehen.
Bidens Klartext gegenüber Putin
Der US-Regierung und dem Präsidenten ging es bei seiner Europa-Reise vor allem darum, zu beruhigen. Biden war ja beim Nato-Gipfel, dem G7-Gipfel und dem EU-Gipfel in Brüssel gewesen, bevor er nach Polen reiste. „Fürchtet euch nicht“, zitierte Joe Biden darum auch gleich am Anfang seiner Rede im Innenhof des Königlichen Warschauer Schlosses den ehemaligen aus Polen stammenden Papst Johannes Paul II. „Denk nicht einmal daran, auch nur einen Fußbreit auf den Boden eines Nato-Alliierten zu setzen“, rief er dem russischen Präsidenten in Moskau und den Anwesenden zu. Und fügte hinzu: „Wir haben eine heilige Verpflichtung unter Artikel 5, jeden einzelnen Inch Nato-Gebiets mit der vollen Stärke unserer gemeinsamen Macht zu verteidigen.“
Putins Krieg in der Ukraine steht für Biden in einer Reihe mit Moskaus Niederschlagung der Aufstände in Ungarn und Polen 1956 sowie der Tschechoslowakei 1968. Er sieht Putin also als Wiedergänger der damaligen Sowjetunion. Deshalb stimmt Joe Biden Europa auf einen neuen Kalten Krieg ein, solange Wladimir Putin regiert. Nach Jahren der Uneinigkeit bringt also der 79-jährige US-Präsident die lange Zeit (auch durch Trump) geringgeschätzte Nato zusammen, wie wohl noch nie in deren 73-jähriger Geschichte. Als das multilaterale Militärbündnis 1949 gegründet wurde, war Joe Biden gerade sechs Jahre alt. „Niemals war die Nato geeinter als heute“, sagt er nun während seiner Europareise im Brüsseler Hauptquartier.
Die Einigkeit des Westens beschwört und moderiert Biden auch bezüglich grundsätzlicher Werte und wirtschaftlicher Kraft. Nur wenn EU, die G7-Staaten und eben die Nato-Partner eng beisammen stehen, kann man Wirkung erzielen.
Bidens Stoßseufzer zum Himmel
„Um Himmels willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben“, sagte Joe Biden in seiner Rede in Warschau über Putin. Das sorgte für helle Aufregung, auch im Westen, weil man Putin doch nicht provozieren solle. Joe Biden wollte aber zeigen, dass er als mächtigster Mann der Welt sich die Freiheit nimmt, zu sagen, was er denkt und fühlt. Schon zuvor hatte Biden Putin einen „mörderischen Diktator“, einen „puren Verbrecher“ und „Kriegsverbrecher“ genannt. Und, nach Treffen mit Flüchtlingen aus der ukrainischen Hafenstadt Mariupol, sagte Biden über Putin: „Er ist ein Schlächter.“ Und später kamen die Bilder des Grauens aus Butscha, wo hunderte Zivilisten getötet wurden.
Bidens Stoßseufzer zum Himmel wurde als aggressiver Aufruf zum Sturz des russischen Präsidenten gedeutet. Dafür hagelte es Kritik: Biden spiele der Kreml-Propaganda mit seiner „Regime-Change“-Rhetorik doch nur in die Hände, lautet ein Vorwurf.
Es gibt die naive Lesart, dass dem US-Präsidenten der Satz halt nur so heraus gerutscht sei. Viel wahrscheinlicher ist aber, dass es Absicht war. Joe Biden habe sich gar nicht auf einen von den USA herbeigesehnten Sturz Putins bezogen. Sondern darauf, dass Putin keine Macht mehr über die Nachbarstaaten haben solle, hieß es kurz nach seiner Rede aus dem Weißen Haus. Bevor Biden dann wieder betonte, dass er den Satz nicht zurück nehme. Also ein klassischer Fall von bewusstem Verwirrspiel, um für Diskussionen auch im Kreml zu sorgen. Diplomatische Ambiguität die eine Spezialität der Russen ist, wird hier von den USA erzeugt
Es ist übrigens nicht ausgeschlossen, dass Putin aufgrund des Ukraine-Krieges und dessen Folgen irgendwann tatsächlich an der Macht abgelöst wird. Nicht vom Volk gestürzt, sondern im inneren Zirkel des Kreml entmachtet. Davon ist beispielsweise der frühere MI6-Russland-Chef Christopher Steele überzeugt. Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte der britische Ex-Agent: „Putin wird die Macht abgeben müssen. (…) Vermutlich wird es jemand aus seiner nächsten Umgebung sein – jemand mit einem leicht anderen Profil, der einen Deal mit dem Westen machen kann. Es wird von innen kommen müssen. Da gäbe es schon Leute, vielleicht auch mit eigenen wirtschaftlichen Interessen. Russland kann diese harten Sanktionen nicht lange überstehen, dafür ist die Wirtschaft viel zu schwach. Und dieser Krieg ist sehr, sehr teuer“, so Steele.
In diesem Lichte betrachtet, ist der Satz: „Um Himmels willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben“, den Joe Biden laut ausrief, wie ein Angebot an andere Kräfte im Kreml zu verstehen. Außerdem sagt er die bittere Wahrheit: Solange Putin in Russland an der Macht ist, ist an Frieden nicht mehr zu denken.
Trumps absurdes Gewäsch
Mitten im Krieg und nach Bidens Rede von Warschau hat Donald Trump dann prompt Putin aufgefordert, angebliche belastende Informationen über den Sohn seines Nachfolgers Joe Biden preiszugeben. In einem Interview behauptete Trump, dass die Frau des ehemaligen Bürgermeisters von Moskau Hunter Biden 3,5 Millionen Dollar gegeben habe. Trump sagte: „Ich denke, Putin wird die Antwort kennen. Ich denke, er sollte sie herausgeben.“
Wie krank ist das denn? Trump dachte sich wohl: Wenn Biden gerade Putin mit seiner Rede brüskiert, wäre doch die Gelegenheit günstig, dass Putin mit angeblichen Informationen über Bidens Sohn mal eben Trump zur Seite springt. Und dies während eines mörderischen Krieges, in dem täglich viele Menschen sterben.
Das Weiße Haus ließ verlauten:„Was für ein Amerikaner, ganz zu schweigen von ehemaligen Präsidenten, denkt, dass das die richtige Zeit ist, um mit Wladimir Putin zu schachern? Und mit Verbindungen zu Putin zu prahlen? So was macht nur ein einziger Amerikaner: Donald Trump.“ Tja, noch gruseliger ist aber die Vorstellung, dass Trump 2024 wieder zum US-Präsidenten gewählt würde. Umfragen sahen ihn zuletzt vor Biden.
Die Sache mit den Geschichtsbüchern
Es gibt auf der Welt Staaten, die von der Krise profitieren wollen. Indien, Brasilien und China sind keineswegs gegen Russland unterwegs. Die schwierigste Aufgabe für die Demokratien des Westens wird es sein, die Bündnisse langfristig zusammenzuhalten. Ganz im Sinne der Rede von Joe Biden in Polen muss bereits jetzt an die Zeit und an die Weltordnung nach dem Ukraine- Krieg gedacht werden.
Wer die Bilder von Putin im Moskauer Stadion gesehen hat, wo er vor Menschenmassen und lauter Fahnenschwenkern eine gruselige Rede über „Helden“ hielt, während er tausende junge Soldaten verheizt, sah einen Wiedergänger von Hitler und dessen Auftritten. Keiner weiß heute, ob Bidens Rede als jene vor dem dritten Weltkrieg in die Geschichte eingehen wird, oder als jene, die eben diesen Weltkrieg abgewendet hat. Ob es dann noch Geschichte gibt.