Das Telefongespräch mit dem 77-jährigen Reinhold Messner findet auf seiner Fahrt von einer Vortragsreihe zurück in sein Zuhause nach Südtirol statt. Er hat unzählige extreme Bergtouren und gefährliche Erlebnisse hinter sich und brennt nach wie vor für seine Ideen und Projekte. Unser Gespräch zeigt den nachdenklichen Philosophen mehr noch als den puren Abenteurer, auch wenn für ihn beides zusammen gehört.
Was ist das Erste, was Sie in Ihrem Zuhause machen werden?
Reinhold Messner: Ich muss in mein Büro und schauen, was alles angefallen ist. Ich treffe Leute, mit denen ich Projekte habe. Ich bereite ein Filmprojekt vor, an dem ich noch etwas arbeiten muss.
Bleibt dabei Zeit, um hinaus zu gehen?
Reinhold Messner: Ja, hoffentlich bleibt das Wetter so schön, dann werden wir auch auf irgendeinen Hügel steigen, um uns zu erholen, das muss nicht ein schwieriger Berg sein. Vortragsreisen sind für die Gesundheit allgemein nicht zuträglich.
Kann und darf man eigentlich die Frage nach dem Sinn des Bergsteigens stellen?
Reinhold Messner: Sowieso. Das ist eine der Schlüsselfragen. Und ich glaube, da hat das Bergsteigen auch seine Faszination her. Da ist der Punkt, wo die Menschen den Kopf schütteln: Wir gehen freiwillig mit Begeisterung dorthin, wo wir umkommen könnten, um nicht umzukommen. Und das Nicht-Umkommen ist die Kunst des traditionellen Bergsteigens. Es ist nur eine Kunst, weil man umkommen könnte. Wenn Sie apriori das Umkommen ausschließen, mit allen möglichen Absicherungen und Hilfen, dann ist das etwas anderes. Nicht schlechter oder besser, aber was anderes. Und das Ganze was wir tun ist nutzlos. Angesichts des Todes, einer Komponente dieses Tuns, ist es auch absurd. Aber gerade weil es nutzlos und absurd ist, wird klar, dass wir es uns sinnvoll machen. Sinnhaftigkeit und Nützlichkeit sind zwei völlig verschiedene Werte. Unsere Gesellschaft, acht Milliarden auf dieser Erde, hat diesen Widerspruch nicht verstanden. Es muss nicht alles nach Nützlichkeit bewertet werden. Ich kann mir etwas sinnvoll machen, das mit Nützlichkeit überhaupt keine Berührung hat. Nützlichkeit und Sinnhaftigkeit sind verschiedene Werte. Ich habe gerade darüber ein neues Buch „Zwischen Durchkommen und Umkommen“ geschrieben – sozusagen das Erbe meines Bergsteigens, das ich weitergebe an die nächsten Generationen – wo ich diesen Unterschied zum Hauptthema mache. Wir dürfen nicht weiter den Sinn irgendwelchen Religionen überantworten oder irgendwelchen Ministerpräsidenten oder Parlamenten. Wir Menschen haben die Fähigkeit, Sinn zu stiften, und das ist eine göttliche Fähigkeit. Ich kann mir auch eine Besteigung des Nanga Parbat im Alleingang sinnvoll machen. Sinnvoller als alles andere auf der Welt. Das ist nur meine Angelegenheit, das geht niemand anderen etwas an.
Es gibt also keinen universalen Lebenssinn, sondern nur einen persönlichen?
Reinhold Messner: Der Sinn des Lebens sei, laut Christentum, auf der Erde in einer bestimmten Form zu leben, auf dass man in den Himmel kommt. Aber ich lasse mich auf dieser Erde nicht mit dem Jenseitigen abspeisen. Wir haben die Möglichkeit uns auszudrücken, unserer Begeisterung und Neugierde nachzugehen, solange wir andere nicht dabei stören. Mein aktuelles Buch, das ich während der Pandemie geschrieben habe, hatte ich mehr oder weniger mit der Hoffnung angefangen, dass ich damit eine Struktur in mein neues Leben bekomme. Ich konnte ja von dem, was ich früher gemacht habe, plötzlich nichts mehr machen. Das Reisen war nicht mehr möglich, keine Vorträge mehr, ich konnte daheim sitzen auf meinem Schloss und in die Morgensonne schauen oder in die dortigen Berge gehen. Aber dann habe ich mir selber diese Aufgabe gestellt und es wurde mein geistiges Erbe, das ich jetzt den nächsten Generationen weitergebe. Das Durchkommen ist das Ziel, aber das Umkommen ist eine Möglichkeit. Es heißt nicht, zum Gipfel kommen, das ist nicht wichtig, auch nicht Sensationen zu liefern. Sondern zwischen Durchkommen und Umkommen bestehen und dabei Erfahrungen machen, vor allem über unsere Begrenztheit. Nur wenn wir an die Grenzen stoßen wird uns klar, welche Nicht-Bedeutung wir auf dieser Erde haben.
Die Vergänglichkeit des eigenen Lebens ist Ihnen also gegenwärtig?
Reinhold Messner: Richtig. Das ist ganz wichtig. Die eigene, subjektive Vergänglichkeit ist eine ganz große Erfahrung, eine große Erkenntnis. Und nicht nur theoretisch sondern auch praktisch. Die Vergänglichkeit des Ganzen ist etwas ganz anderes. Über die kann man nachdenken, aber ich bin kein Apokalyptiker. Natürlich ist die Erde und unser Sonnensystem auf die Explosion am Ende angelegt. Dann ist alles vorbei. Aber das sind Zeitspannen in denen wir nicht denken können.
Aber wenn man bewusst diese Möglichkeit, umzukommen eingeht, mutet man seinen Angehörigen doch unglaublich viel zu?
Reinhold Messner: Das ist richtig. Aber umkommen tun wir alle. Ich lebe mit dieser Tatsache, erfahren – nicht gelernt – durch meine wilden, extremen Abenteuer, dass ich ein Sterbender bin. Und nur wenn ich mit jeder einzelnen Faser meines Wesens das weiß, kann ich intensiv leben. Wer nicht gelernt hat, dass das Sterben dazu gehört, kann nicht intensiv leben. Dann wird er immer mehr tot, immer weiter ins Nowhere geschoben. Wir sind beim traditionellen Bergsteigen mit dem Tod konfrontiert, es schlägt halt mal der Blitz ein, es kommt eine Lawine. Das macht uns so bescheiden. Für mich sind die Berge die Gesetzgeber.
Kann man das lernen, dieses Wagen-wollen, hinaus in die gefahrvolle, wilde Natur?
Reinhold Messner: Sie haben einen ganz wichtigen Punkt aufgegriffen, das Wagen. Aber zuerst noch etwas zu den Angehörigen. Ihnen gegenüber ist das, was wir tun, nicht zu verantworten. Die haben es schwer damit. Wir, jeder einzelne, muss sich entscheiden, was zu tun ist. Ich beschreibe in meinen Büchern nur, wie wir unterwegs sind, ich bewerte nicht. Wir sind nach anarchischen Mustern unterwegs. Es geht nicht anders. Anarchos heißt, keine Macht für niemand. Es ist niemand da, der uns sagt, du musst so oder so. Wir haben selber dem Ganzen einen Sinn gegeben, wir tragen die Verantwortung, und wenn wir einen groben Fehler machen, dann ist Todesstrafe. Aber es gibt keinen Richter. Ich habe mich dann in diesen anarchischen Raum begeben und arbeite nach anarchischen Mustern. Ich bin nicht der geschickteste Bergsteiger gewesen. Es gibt Leute, die mehr Genie hatten als ich. Aber ich habe sehr früh die Gabe entwickelt, es zu wagen. Ich bin ein vorsichtiger Mensch, ein äußerst vorsichtiger Mensch, so bin ich veranlagt. Ich habe als kleines Kind angefangen zu klettern und in die Berge zu gehen und hatte mit 20 sehr viel Erfahrung. Aber es gab Leute, die waren einfach besser als ich, vom Körperbau und Ausdauer her, von ihrer Veranlagung her. Aber viele von denen haben dann nichts auf die Beine gestellt, weil sie nur gezögert haben. Es gilt die Sache auch zu wagen. Das heißt, ich muss das Risiko oder zumindest ein Restrisiko eingehen. Und wenn ich das nicht kann, dann kann ich mich in dieser Sparte nicht ausdrücken. Es gibt so viel Neid gegen mich, weil ich das Glück hatte zu überleben, weil ich sehr viel Kreativität in meine Sachen hineingelegt und immer wieder neue Zugänge erfunden habe. Ich habe mich sechs mal neu erfunden. Den anderen fehlte die Gabe es zu wagen. Wenn Sie ein großes Projekt haben, für das Sie jahrelang gearbeitet haben, um es zu finanzieren, um genügend physische Kraft zu haben, die richtigen Partner, die richtige Ausrüstung zu haben, und wenn Sie dann zögern, wachsen die Ängste, die vor allem im Vorfeld kommen. Und am Ende sind die Ängste so groß, dass Sie nicht mehr losgehen. Wenn Sie beherzt losgehen, also es wagen, dann spüren Sie, dass Sie es können, dass es funktioniert, auch dass eine Krise überwindbar ist.
Als damals Ihr Bruder am Berg den Tod fand, das hätte bei Ihnen auch ein Trauma auslösen können, die weitere Bergtouren vielleicht unmöglich gemacht hätten?
Reinhold Messner: Es hat ja auch ein Trauma ausgelöst. Wir beiden hatten sicher mehr als tausend Touren miteinander gemacht. Der Nanga Parbat war für uns beide die erste 8000er-Expedition. Wir waren früher ein bisschen überheblich geklettert. Uns passiert nichts, das war unsere Haltung. Wir waren so jung, die anderen kommen um, nur wir nicht. Und plötzlich war der Bruder tot und natürlich war das ein Schock für die Familie, für mich. Ich konnte auch nicht mehr so gut klettern. Ich war dann wieder in meinen bürgerlichen Beruf als Lehrer zurückgekehrt. Erst nach einem halben Jahr habe ich mich entschieden, beim Bergsteigen zu bleiben. Auch weil mein Bruder und ich während der Expedition schon in die Zukunft geträumt hatten. Wir waren ja 40 Tage zusammen in dieser Wand, in irgendwelchen Hochlagern, manchmal eingeschneit. Nachdem ich aber nicht mehr so gut klettern konnte wie vorher, wegen meiner Amputationen, ich habe ja Zehen verloren, im Grunde bin ich ein Invalider, – ich war vorher vor allem ein Fels- und Eiskletterer – wurde ich ein Höhenbergsteiger. Das ist ein völlig anderes Tun. So habe ich viele hohe Berge bestiegen. Dann wurde ich ein Forscher, dann ein Politiker, dann wurde ich ein Museumsgründer, dann ein Filmemacher, und in Zukunft werde ich mich darum kümmern, dass das traditionelle Bergsteigen nicht ausstirbt.
Im Alter nicht mehr so hoch auf die Berge zu können, schmerzt das?
Reinhold Messner: Nein. Ich hatte überhaupt kein Problem, als ich mich mit 25 oder 26 entschied, das Klettern, das meine große Leidenschaft war, zurückzustellen und etwas anderes in den Mittelpunkt meines Tuns zu stellen. Eben das Höhenbergsteigen. Das war überhaupt nicht schmerzhaft. Das war gut. Und diese Entscheidung, angeregt durch meinen Zustand, meine amputierten Zehen, hat mich gelehrt, dass ich immer dann, wenn ich merke, dieses Tun ist nicht mehr verbesserbar, ich kann keine genialere Zugehensweise finden, es besser ist, umzusteigen und bei Null wieder anzufangen. Weil dann die Neugierde am größten ist. Natürlich habe ich in allen Sparten von meinen früheren Erfahrungen auch etwas mitgenommen ins neue Leben. In der Summe bin ich immer dann, wenn ich am Zenit des Tuns war und merkte, weiter geht es nicht mehr, ich kann mich nicht verbessern und keine kühneren Ideen umsetzen, umgestiegen. Und das werde ich auch in Zukunft tun. Allerdings wird mein Alter es nur noch einmal erlauben.
Hätten Sie auch anders ein glücklicher Mensch werden können? Was ist für Sie Glück?
Reinhold Messner: Sie kennen sicher die Geschichte von Sisyphus. Camus sagt in der letzten Zeile, die auch in der Film-Biografie über mich vorkommt: Man muss sich Sisyphus – das kann man auch ersetzen durch Messner – als glücklichen Menschen vorstellen. Obwohl ich etwas getan habe, was völlig irreal und nicht zu verteidigen ist, absurd erscheint, auch angesichts des Todes, der ja immer wieder bei Grenztouren auftaucht. Aber ich habe es mir sinnvoll gemacht. Und das Umsetzen von sinnvollen Ideen, von sinnvollem Tun, ist Glück. Allerdings passiert uns das Glück. Wir sind während des Umsetzens so fokussiert auf das Tun, dass wir uns gar nicht bewusst sind, das es Glück ist. Gelingendes Leben im Hier und Jetzt ist immer mit Glück verbunden. Das Glück passiert uns Menschen, wenn wir in unser Tun, in eine bestimmte Person, in eine bestimmte Sache die ganze Vehemenz unserer Begeisterung hinein legen, getragen von dieser Sinnstiftung, die ich als die Basis des Lebens ansehe. Und der Sinn kommt nicht von außen, sondern ich gebe Sinn. Das Sinnstiften ist eine divine Fähigkeit, wie auch die Kreativität.
Reinhold Messner, „Nanga Parbat – Schicksalsberg“, Mundologia, am 15. und 16. November 2021, 19. 30 Uhr, im Konzerthaus Freiburg; www.mundologia.de