Selten gab (und gibt) es ein Interview eines Fußballers, das so erfrischend ehrlich, klar und überzeugend ist wie jenes, das Manuel Neuer der „Süddeutschen Zeitung“ gab. Das liegt daran, dass Neuer genau das hat, was Olli Kahn früher gerne forderte: „Eier, wir brauchen Eier!“ Denn es ist in der Branche ja so, dass über alle öffentlichen Äußerungen der Spieler (und meistens auch der Trainer, außer bei Christian Streich, was ja eben auch seine Besonderheit ausmacht) eine Schar aus Medienspezialisten der Vereine wachen, die gerne alles Leben aus den Interviews eliminieren. Also hat Neuer den Mut gehabt, das Interview für die SZ an den Aufpassern des FC Bayern vorbei zu führen. Das ist ganz große Klasse!
Dabei war dieses Interview nicht nur wegen der Kritik am FC Bayern beachtlich, sondern etwa auch, weil Neuer in Bezug auf die WM sagte: „Man malt sich hinterher immer die Welt, wie sie am besten zum Ausgang eines Turniers passt. Es wird ja immer erzählt, wie toll die WM 2014 gewesen sei. In Wahrheit hatten wir da Probleme in den meisten Spielen, und unser Quartier im Campo Bahia war nicht fertig, als wir angereist sind. Bei mir hat’s reingeregnet. Morgens ab sechs Uhr war die Tierwelt zu hören, Kanarienvögel oder Affen, es war wie im Urwald. Das will ja keiner hören. Ich persönlich habe bei der WM 2018 in Watutinki besser geschlafen.“ Es ist amüsant und interessant, mal solche Innenansichten zu vernehmen.
Oder noch mehr, und in den Ohren echter Bayern (die Fans hielten ja nach seiner Verpflichtung Plakate mit „Koan Neuer“ hoch), wenn er über seine Herkunft spricht: „Wir haben muslimische Spieler in unseren Reihen, diese Vielfalt ist für uns selbstverständlich. Ich komme aus Gelsenkirchen. Das ganze Ruhrgebiet war wirtschaftlich abhängig von Arbeitern aus Polen, der Türkei und Italien, nur dank ihnen hatten wir diesen Wohlstand. Ich bin dankbar dafür, dass ich so aufgewachsen bin.“
Dies und viele andere Ansichten, die mal wirklich einen Einblick in den Profifußball gaben, sind dann der Diskussion gewichen, ob Manuel Neuer den FC Bayern für die Entlassung seines Freundes und Torwarttrainers Toni Tapalovic wie folgt kritisieren durfte: „Für mich war das ein Schlag, als ich bereits am Boden lag. Ich hatte das Gefühl, mir wird mein Herz rausgerissen, das war das Krasseste, was ich in meiner Karriere erlebt habe. Und ich habe wirklich schon einiges erlebt.“
Frage: Durfte Neuer das sagen? Antwort: Wir bitten doch darum! Dass es den Verantwortlichen des FC Bayern nicht gefällt, wenn ihr leitender Angestellter öffentlich den überraschenden Rauswurf seines Torwarttrainers beklagt, ist (selbst)verständlich. Doch darum geht es nicht. Vielmehr befremdet die Debatte gerade auch in den Medien, dass Neuer sich mit seinen Aussagen „über den Verein“ gestellt habe. Denn was soll das bitteschön heißen? Klar gibt es die blöde Floskel, dass „der Verein über allem“ stünde. Es ist aber nicht erkennbar, dass Neuer sich „über“ den Verein gestellt habe, denn er konnte ja die Entlassung von Tapalovic nicht verhindern. Was Neuer einzig getan hat, war über seine Gefühle zu sprechen. Und wenn dies dem FC Bayern tatsächlich schaden sollte, dann würde das langjährige Image des Vereins, quasi Familie, sich selbst als Lüge entpuppen.
„Neuer oder Nagelsmann – nur einer bleibt!“ schlagzeilte die „Bild“. Lothar Matthäus hat prompt von dem „zerschnittenen Tischtuch“ gesprochen, ganz ohne sich daran zu erinnern, dass Uli Hoeneß mal öffentlich erklärte, dass Lothar Matthäus beim FC Bayern noch nicht einmal einen Job als Platzwart bekäme. Sprich: Da konnte kein Tischtuch zerschnitten werden, weil es nicht einmal einen Tisch gab, an dem man gemeinsam Platz nahm.
Manche behaupten, dass Neuer ja bei den Millionen, die er verdient, hätten schweigen sollen. Dann wäre der FC Bayern halt die Mafia, die Schweigegeld bezahlt. Der Boulevard würde sich freuen, wenn Neuer der Nagelsmann am Sarg des Trainers wäre. Dafür tun die Medien gerne alles. Manche führen ein Interview!