„All in“ – aus lauter Eigensinn!

Der „Law an Order“-Mann Friedrich Merz hat sich zunächst etwas von Donald Trump abgeschaut. Dann aber begeht er wenige Wochen vor der Bundestagswahl einen rätselhaften Fehler.

Fotomontage: Adrian Kempf

War es klug von Friedrich Merz, nach dem Messerangriff von Aschaffenburg mit größter Vehemenz die Migrations-Debatte auf seine Seite zu ziehen? Zunächst darf man Merz attestieren, dass seine Wut und sein Entsetzen über die schreckliche Tat authentisch wirkte. Er teilte somit diese Gefühle mit den allermeisten Menschen im Land. Niemand kann begreifen, wieso ein 28jähriger Afghane mit dem Messer auf eine Kita-Gruppe losging, auf Kleinkinder. Keiner will das haben, das soll nicht sein! Aus dieser Haltung speiste sich auch die unmittelbare Reaktion von Friedrich Merz. Und weil der CDU-Chef sogleich viele Forderungen der AfD übernahm, hat er zunächst verhindert, dass die rechtsextreme Partei sich des „Themas“ bemächtigte. Hätte Merz nach Aschaffenburg den Ton nicht so schnell gesetzt, dann hätte sich die AfD diese Beute geschnappt und wäre in den Umfragen weiter geklettert. Es bleibt allerdings ein Rätsel, weshalb Merz es wenige Wochen vor der Bundestagswahl nicht bei seiner Ankündigung beließ, sondern ohne Not noch hurtig einen rechtlich völlig unverbindlichen „Entschließungsantrag“ durch den Bundestag peitschte. Der Ertrag geht da gegen Null. Als er dann auch noch ein Gesetz mit Stimmen der AfD durchbringen wollte, ist er damit gescheitert, wegen zu vieler Abweichler im eigenen Lager und bei der FDP. Dies hinterher auch noch als „Mut“ verkaufen zu wollen, ist wahrhaft lächerlich.

Denn man muss sich immer vor Augen halten, dass weder der „gewonnene“ Entschließungsantrag noch der dann gescheiterte Gesetzesentwurf (der wohl im Bundesrat abgelehnt worden wäre) irgendeinen schnellen Effekt auf die konkrete Sachlage gehabt hätten.  Wenn also nach dem krachenden Scheitern ein CDU-Fan bei einer Wahlkampfveranstaltung Friedrich Merz fragte: „Musste das jetzt sein, drei Wochen vor der Wahl?“ – und Merz daraufhin ein aufgesetzt wirkendes „Ja, unbedingt“ folgen ließ, dann offenbart sich seine Schwäche umso mehr. Denn es war reine Symbolpolitik, aus einer Eitelkeit der Person Merz heraus, mit der er sich als Macher präsentieren wollte. Würde ein Fußballtrainer, dessen Mannschaft haushoch führt, ohne Not und Verstand alles auf eine Karte setzen? Und wenn er es täte und dann am Ende verliert, würde er es wohl kaum wagen, seinen eigenen „Mut“ für eine völlig falsche Entscheidung in die Welt zu posaunen. Denn eine Niederlage ist eine Niederlage und nichts sonst.

Außerdem hat Merz in der Schlussphase des Wahlkampfes ein neues Thema gesetzt, das die ursprüngliche Debatte um die Migration noch weit  überstrahlt. Das Thema lautet: Ist Merz ein Umfaller gegenüber den Rechtsextremen? (siehe dazu auch Seite 6). Der Schaden seines Manövers ist beträchtlich: Rechtsextremistische Kräfte sind aufgewertet, und die Verlässlichkeit des Kanzlers in spe steht in der Öffentlichkeit und bei möglichen Koalitionspartnern infrage. Merz hätte mit konkreten Anträgen besser bis nach der Wahl gewartet, wenn er sich Mehrheiten ohne die AfD organisieren kann. Weshalb er quasi für nichts diese Abstimmungen im Bundestag wollte, wird wohl sein Geheimnis bleiben. Gewinner war die AfD, zuerst durch den Triumph, gemeinsam mit der Union erstmals in der Geschichte des Bundestages einem Antrag zur Mehrheit verholfen zu haben, und dann aber auch nach der Abstimmungsniederlage bei Gesetzesentwurf, da diese Niederlage ja nicht der AfD zugerechnet werden konnte, die völlig einstimmig votierte. Der Spott vonseiten der AfD folgte sogleich. Es frohlockte, trotz Abstimmungsniederlage, nur eine. Für Alice Weidel, die Kanzlerkandidatin der AfD, ist das „die Demontage von Friedrich Merz als Kanzlerkandidat gewesen“. Seine eigene Fraktion habe ihn „abgesägt“. „Er kann kein Kanzler, er kann kein Kanzlerkandidat“ Diese Vorlage ließ sie sich nicht entgehen. „Friedrich Merz ist als Tiger gesprungen und endete als Bettvorleger.“

Was Merz ursprüngliche ankündigte

Merz sagte ursprünglich, er werde im Fall seiner Wahl zum Bundeskanzler am ersten Tag seiner Amtszeit das Bundesinnenministerium im Wege der Richtlinienkompetenz anweisen, „die deutschen Staatsgrenzen zu allen unseren Nachbarn dauerhaft zu kontrollieren und ausnahmslos alle Versuche der illegalen Einreise zurückzuweisen“. Es werde „ein faktisches Einreiseverbot in die Bundesrepublik Deutschland für alle geben, die nicht über gültige Einreisedokumente verfügen“. Das gelte ausdrücklich auch für Personen mit Schutzanspruch, also für Asylsuchende. Schwer populistisch, aber voll auf Linie der Stimmung im Land, wo die große Mehrheit dies befürwortet. 

Vernichtende Kritik von Merkel und den Kirchen

Es geschah dann etwas Ungewöhnliches. Erst übten die Kirchen, somit also das „C“ im Parteinamen der Union heftige Kritik. Das war noch vor der Abstimmung im Bundestag. Prälat Karl Jüsten für das Kommissariat der deutschen Bischöfe und Prälatin Anne Gidion als Bevollmächtigte des Rates der Evangelischen Kirche an die Unionsfraktion verschickten eine gemeinsame Stellungnahme: „Zeitpunkt und Tonlage der aktuell geführten Debatte befremden uns zutiefst“, heißt es da. „Sie ist dazu geeignet, alle in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten zu diffamieren, Vorurteile zu schüren und trägt unserer Meinung nach nicht zur Lösung der tatsächlich bestehenden Fragen bei.“ Das Schreiben ist vernichtend, auch deshalb, weil die Kirchen die Pläne von Merz in weiten Teilen für rechtswidrig halten.

Und nach dem Tabubruch der Abstimmung im Einklang mit den Stimmen der AfD hat sich dann – ganz gegen ihre Gewohnheit – Angela Merkel zu Wort gemeldet. Merkel war 18 Jahre lang Vorsitzende der CDU und 16 Jahre Kanzlerin. In einer „Erklärung“ verwies sie nun darauf, dass Merz noch am 13. November 2024 im Bundestag wörtlich erklärt habe: „Wir sollten mit Ihnen, den Sozialdemokraten, und Ihnen, den Grünen, vereinbaren, dass wir nur die Entscheidungen auf die Tagesordnung des Plenums setzen, über die wir uns zuvor mit Ihnen von der SPD und den Grünen in der Sache geeinigt haben, sodass weder bei der Bestimmung der Tagesordnung noch bei den Abstimmungen in der Sache hier im Haus auch nur ein einziges Mal eine zufällige oder tatsächlich herbeigeführte Mehrheit mit denen da von der AfD zustande kommt.“ Dieser Vorschlag von Merz und die mit ihm verbundene Haltung seien Ausdruck großer staatspolitischer Verantwortung gewesen, „die ich vollumfänglich unterstütze“, schreibt Merkel. „Für falsch halte ich es, sich nicht mehr an diesen Vorschlag gebunden zu fühlen und dadurch am 29. Januar 2025 sehenden Auges erstmalig bei einer Abstimmung im Deutschen Bundestag eine Mehrheit mit den Stimmen der AfD zu ermöglichen.“ Wumms! Denn trotz aller Kritik an ihren Regierungsjahren gilt Angela Merkel vielen Deutschen noch immer als glaubwürdig.

Die Gretchenfrage, die Merz selbst beschwor

Durch sein Manöver hat Friedrich Merz eine Frage selbst herauf beschworen, die sich zuvor nicht ernsthaft gestellt hatte. Würde er sich auch mit Stimmen der AfD zum Kanzler wählen lassen und somit die Rechtsextremen an der neuen Bundesregierung beteiligen? Merz bestreitet das zwar vehement, aber warum hat er dann zuvor in Kauf genommen, einen Antrag mit Stimmen der AfD zur Mehrheit zu verhelfen? Merz will weismachen, dass dies geboten war, um in der „Sache“ Migration schnell voran zu kommen. Aber das stimmt eben nicht, weil der Antrag nur Symbolcharakter hatte. Und das überstrahlende Symbol war hier: Mit der AfD geht es auch. 

„Jetzt stehen Sie hier mit schlotternden Knien, Herr Merz und bedauern das“, rief AfD-Geschäftsführer Baumann nach der gemeinsamen Mehrheit beim Antrag. „Hier beginnt jetzt eine neue Epoche!“, jubelte er. Und machte dann selbst ein „Angebot“: „Sie können folgen, Herr Merz, wenn Sie noch die Kraft dazu haben.“ Sprich: Die AfD vorne, die Union bestenfalls Anhängsel. Eine Drohung für die Wahl 2029. Zwar hat Merz laut Umfragen sein Manöver nicht geschadet. Aber sein Eigensinn, „all in“ zu gehen, ohne Ertrag, lässt Zweifel laut werden.