Bei der offiziellen Vorstellung ihres Buches mit dem Titel „Freiheit“ hat Angela Merkel einen Satz gesagt, der mehr aussagt als die 736 Seiten der Memoiren. Bei ihrem Auftritt im Theater in Berlin wird Merkel gegen Ende ihrer Buchvorstellung von Anne Will gefragt, ob sie es Merz gönne, jetzt vielleicht doch noch Kanzler zu werden, wenn auch mit zwanzig Jahren Verspätung. „Ja“, sagt sie darauf. Merz habe genau wie sie selbst den unbedingten Willen zur Macht, „und deshalb gönne ich es ihm“. Hallo? Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Angela Merkel definiert die Politik als den persönlichen Willen zur Macht! Unter diesem Blickwinkel liest sich dann auch klarer, wenn Merkel im Prolog zu ihrem Buch schreibt: „Wie kam es, dass eine Frau nach den ersten 35 Jahren ihres Lebens in der DDR das mächtigste Amt, das die Bundesrepublik Deutschland zu vergeben hat, übernehmen und sechzehn Jahre lang bekleiden durfte? Die es wieder verließ, ohne während einer Amtszeit zurücktreten zu müssen oder abgewählt worden zu sein?“ Tja, das kam wohl so, weil Angela Merkel in ihrem Regieren alles dem „unbedingten Willen zur Macht“ untergeordnet hat. Und ja, das ist ja auch wirklich in der Welt verbreitet, vom Trump über Putin bis Netanjahu. Man regiert hauptsächlich für den eigenen Machterhalt. Merkels Satz ist da klipp und klar. Kann aber sein, dass diese Haltung nicht gerade den Glauben an die Demokratie fördert.
In ihrem Buch widmet Merkel dem Merz nur ein paar läppische Seiten (höchstens 3 von 736, was ungefähr mit 733 Seiten über andere Themen dem entspricht, wie lange Merz politisch gar keine Rolle spielte) und konkret auch nur ein paar hingeschmissene Bemerkungen. Dem für Friedrich Merz so schmerzlichen Moment, als sie ihn vom Fraktionsvorsitz verdrängte, widmet Merkel in ihrem Buch jedenfalls nur eine knappe halbe Seite. „Er war und ist ein brillanter Redner“, schreibt sie. Es habe ihr gefallen, „dass auch er machtbewusst war“. Aber es habe halt dieses Problem gegeben: „Wir wollten beide Chef werden.“ Und dann die Beschreibung, wie sie Merz nach der Bundestagswahl 2002 vom Vorsitz der Unionsfraktion verdrängt hat.
„Friedrich Merz war tief getroffen, als ich ihm eröffnete, dass ich an seiner Stelle Fraktionsvorsitzende werden wollte und Edmund Stoiber und ich als die Vorsitzenden von CDU und CSU unserer Fraktion bei ihrer ersten Sitzung einen entsprechenden Wahlvorschlag machen würden“, schreibt Merkel.
Was sagt Merkel zur aktuellen Politik?
Angela Merkels Memoiren haben natürlich eine Debatte über ihre Fehler und ihre Verantwortung als Kanzlerin ausgelöst. Und umgekehrt kamen im Zuge der Veröffentlichung ihres Buches – und dessen Vermarktung – auch Fragen von Journalisten, was die ehemalige Kanzlerin denn von den aktuellen politischen Entwicklungen halte. Und da kam Merkel nicht darum herum, sich teilweise klar vom Kurs der Union unter Friedrich Merz zu distanzieren. Dies betrifft die Lockerung der Schuldenbremse (was Merkel befürwortet), aber vor allem die von Merz angekündigte Migrationspolitik. „Ich finde das nach wie vor nicht richtig“, sagte Merkel zu Forderungen, Asylbewerber an der Grenze zurückzuweisen. In einem Interview mit dem „Spiegel“ erklärte sie: „Es ist doch eine Illusion anzunehmen, alles wird gut, wenn wir Flüchtlinge an der deutschen Grenze zurückweisen.“ Sollte es der EU nicht gelingen, das Problem der illegalen Migration zu lösen, fürchte sie „ein Stück Rückabwicklung der europäischen Integration, mit Folgen, die man nicht abschätzen kann“
Mit Blick auf ihre Regierungszeit verteidigte Merkel das Offenhalten der deutschen Grenzen während der Flüchtlingskrise von 2015. „Ich hatte damals das Gefühl, ich hätte sonst die gesamte Glaubwürdigkeit der Sonntagsreden über unsere tollen Werte in Europa und die Menschenwürde preisgegeben“, sagte die 70-Jährige. „Die Vorstellung, zum Beispiel Wasserwerfer an der deutschen Grenze aufzustellen, war für mich furchtbar und wäre sowieso keine Lösung gewesen.“
Ein Buch ohne Populismus.
In den Memoiren „Freiheit“ gibt es immer wieder Bezüge zur DDR-Vergangenheit von Merkel. In Bezug auf die Flüchtlingskrise 2015 schreibt sie, dass sie die verzweifelte Lage der Geflüchteten in Ungarn 2015 an die DDR-Bürger erinnert habe, die kurz vor dem Mauerfall in der westdeutschen Botschaft in Prag Zuflucht gesucht hatten. Mit ihren DDR-Erfahrungen verteidigte die Altbundeskanzlerin auch ihre Selfies mit Flüchtlingen: „Ein freundliches Gesicht bringt niemanden dazu, seine Heimat zu verlassen. Ich kenne viele Flüchtlinge aus der DDR. Niemand hätte sich auf den Weg gemacht wegen der Aussicht auf einen Handshake mit Helmut Kohl.“ Ohnehin erwarte Geflüchtete „hier in der Bundesrepublik auch nicht das tollste Leben“.
Generell hat Angela Merkel bei der Gala zur Veröffentlichung ihres Buches eine gewisse Haltung gezeigt. „Dieses Buch soll wirklich nicht den Eindruck erwecken, ich würde der Meinung gewesen sein, mit meinem Ausscheiden aus dem Amt sei sozusagen das ideale Deutschland hinterlassen worden.“ Es habe eben auch viele Krisen gegeben, „wir waren auch oft sehr, sehr beschäftigt“, was aber natürlich keine Ausrede sein solle. Als Anne Will ihr dann auf der Bühne aufzählt, was so alles ihrer Amtszeit als Mängel angelastet wird: Digitalisierung, Bahn, Klimaschutz, Bundeswehr, Energieabhängigkeit von Russland –, will Merkel dies „nicht ganz so unterschreiben.“
Und fährt fort: „Wissen Sie“, sagt sie, „wenn’s hilft, dann soll man sagen: Merkel war’s. Ich glaube nur, dass damit dem Land auch nicht geholfen ist.“ Das ist natürlich auch ein Trick der noch immer machtbewussten Angela Merkel. Die oft bemühte Behauptung (gerne von den gescheiterten Ampel-Männern), dass die 16 Merkel-Jahre eine einzige Katastrophe waren und die Hypothek dieser Zeit noch lange abzutragen sein wird, ist natürlich genauso Quatsch wie die Behauptung, Merkel habe eine Schönwetter-Kanzlerschaft absolviert und schwierige Entscheidungen alle und immer ausgesessen. Denn weder war ihre Kanzlerschaft krisenfrei, noch hat Merkel lauter Fehlentscheidungen zu verantworten. Tatsächlich aber liefert Merkels Schreibstil und die Reduktion von Politik auf einen hypersachlichen Vorgang den von ihr so gewünschten Blick auf die Person: So ist sie, diese Angela Merkel, kontrolliert, berechenbar, am liebsten reduziert auf die Sache und das nackte Argument. Der Trick der „Freiheit“ besteht also darin, dass es immer nur um Fakten geht und man als Leser bitteschön den Blick von damals akzeptieren soll, statt der Besserwisserei mit dem Wissen von heute zu frönen. Jedenfalls bleibt sich Merkel in ihren Memoiren insofern treu, dass sie Sachlichkeit statt Populismus verbreitet.
„Männer“, sagt Merkel.
Ob diese Sachlichkeit nicht oft auch ein Vorwand ist, um sich dahinter zu verstecken, ist freilich eine andere Frage. Der Spiegel hat Merkel gefragt, was sie gedacht habe angesichts des jüngsten Regierungsdramas. Ihre Antwort: „Männer!“ Ja, die Frau, die da auf der Bühne zur Präsentation ihres Buches sitzt, kennt sich aus mit Alphamännchen. Sie kennt Scholz, sie kennt Merz. Sie kennt auch Trump und sie kennt Putin. Und die Ukraine? Hat sie die nicht im Stich gelassen, als sie ihr 2008 den nächsten Schritt in Richtung Nato-Mitgliedschaft verweigerte? „Nein, ich sehe das anders.“ Ein Beitrittsprozess hätte trotzdem mehrere Jahre gedauert, eine Phase, die Wladimir Putin nach Merkels Einschätzung nicht tatenlos hingenommen hätte. Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine 2022 habe ein neuer Zeitabschnitt begonnen, das sieht auch Merkel so. Aber zu ihrer Zeit sei es einerseits um billiges Gas gegangen, „das war gut für die deutsche Wirtschaft“. Und andererseits habe sie auch nicht alle wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland kappen wollen. Mit sich und ihren politischen Entscheidungen ist Merkel auch rückblickend im Reinen. Und na ja, ein internationaler Bestseller wird das Buch werden. Es erscheint in dreißig Ländern, liegt in allen Buchhandlungen aus. Es gibt hier den unbedingten Willen zu Ansehen und zum Geld.