„Die wollen uns kämpfen sehen“ – ein Geisterspiel

Nach dem SPD-Ergebnis bei der Europawahl wirkt Kanzler Olaf Scholz merkwürdig gut gelaunt. Der Parteichef Lars Klingbeil hingegen bemüht eine Metapher aus dem Fußball.

Wenn in Fußballstadien die Fans singen „WIR wollen euch kämpfen sehen!“, dann sind sie zwar von der herrschenden Lage (sprich: Ergebnis) gerade enttäuscht, aber signalisieren mit ihrem Gesang dennoch die Treue zu ihrem Verein. Wenn Leute aus der SPD nun sagen: „DIE wollen uns kämpfen sehen“, dann ist nicht sicher, ob die Fangemeinde überhaupt noch existiert
Wenn in Fußballstadien die Fans singen „WIR wollen euch kämpfen sehen!“, dann sind sie zwar von der herrschenden Lage (sprich: Ergebnis) gerade enttäuscht, aber signalisieren mit ihrem Gesang dennoch die Treue zu ihrem Verein. Wenn Leute aus der SPD nun sagen: „DIE wollen uns kämpfen sehen“, dann ist nicht sicher, ob die Fangemeinde überhaupt noch existiert. (Fotomontage: Adrian Kempf)

Der Vers von Dichter Friedrich Hölderlin passt gerade auf Olaf Scholz. „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, heißt es in seiner 1803 vollendeten Hymne „Patmos“. Die Gefahr, die Kanzler Scholz droht, nach den Ergebnissen der Europawahl mehr denn je, ist der Verlust seiner Kanzlerschaft, spätestens bei der Bundestagswahl 2025. Es scheint derzeit sogar völlig illusorisch, dass dem wackeren Scholz dann noch einmal ein Überraschungscoup gelingt wie bei der letzten Bundestagswahl. Aber das Rettende, das auch wächst, das wächst in der Union. Denn dort hat sich nach dem Wahlsieg bei der Europawahl etwas entfacht, das Scholz helfend zur Seite springen könnte: Es wird plötzlich wieder über die Frage diskutiert, wer eigentlich Kanzlerkandidat in der Union werden soll. Man wird sich erinnern: Der destruktive Streit zwischen Markus Söder und Armin Laschet hat bei der letzten Bundestagswahl erheblich dazu beigetragen, dass Scholz dann der lachende Dritte war.

 
Obwohl die Union bei der Europawahl mit Abstand stärkste Kraft geworden ist, wachsen in der CSU die Zweifel an einem möglichen Kanzlerkandidaten Friedrich Merz. In der Partei wurde am Montag nach der Wahl darauf verwiesen, dass trotz der schweren Niederlage der SPD am Sonntag Olaf Scholz in der Kanzlerfrage immer noch vor Merz rangiere. Und dass verglichen mit den 39,7 Prozent der CSU in Bayern das bundesweite Unionsergebnis von 30,0 Prozent nicht wirklich berauschend sei. Die CSU warnt deshalb die CDU vor einer vorzeitigen Festlegung auf den CDU-Chef als Kanzlerkandidaten der Union. 

„Es muss diskutiert werden, wer der richtige Kandidat ist“, sagte vorauspreschend der CSU-Fraktionsvorsitzende im Bayerischen Landtag, Klaus Holetschek der Augsburger Allgemeinen. Man müsse sich fragen, wie man „die Menschen in der Breite“ erreiche, so Holetschek: „Mit wem hat man die Chance, das beste Ergebnis zu erzielen?“ CSU-Chef Markus Söder lag zuletzt in mehreren Umfragen bei den persönlichen Zustimmungswerten mehr oder minder deutlich vor Merz. Ja will denn der Holetschek seinen Chef nach Berlin ins Kanzleramt weg loben?

Was Markus Söder,Hendrik Wüst und Merz selbst dazu sagen 

Söders Auslassungen erinnern schwer an seine Vorgehensweise gegen Laschet. Man könnte sagen, dass sie infam sind, insbesondere weil er ja das Temperament von Friedrich Merz kennt, der emotional gerne mal durch die Decke geht, wenn man ihn reizt. Und genau dies tut Söder, selbstverständlich auf hinterhältige Art. Merz und er verstünden sich „wirklich sehr gut“, sagte Söder. „Wir werden da eine gute Lösung finden, da bin ich ganz sicher.“ Aus Sicht von Merz klingt das eher wie eine unverhohlene Drohung.

Der CDU-Chef ließ sich aber zunächst nicht aus der Reserve locken. Er kommentierte das Ergebnis der Wahlen zum Europa-Parlament sogar eher zurückhaltend. In der Pressekonferenz nach den CDU-Gremiensitzungen sagte Merz auf die Frage, ob er das Europawahlergebnis denn nun als Rückenwind in Sachen Kanzlerkandidatur empfinde, dass das Ergebnis eine „Bestätigung unseres Kurses, auch meines Kurses ist, wie wir die CDU in die Zukunft führen“.

Die Parteigranden der CDU halten nichts von Söder, der seinem Ansehen in der CDU mit dem destruktiven Agieren im Bundestagswahlkampf von Armin Laschet schwer geschadet habe. Aber natürlich gibt es auch noch einen potenziellen Kandidaten Hendrik Wüst. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident hat deshalb ebenfalls kein Interesse an einer vorschnellen Festlegung auf Merz. „Alle Ministerpräsidenten haben die Regierungserfahrung und auch die Fähigkeit zur Kanzlerkandidatur“, sagte Wüst in der ARD. Er sehe aktuell „eher fünf als zehn“ mögliche Unions-Kanzlerkandidaten. Na guck mal, doch nicht so viele! Aber wer sind die vier Kandidaten neben Merz?

Wie hat Olaf Scholz selbst reagiert?

Nun ja, eigentlich wie immer. Nämlich nach außen mal gar nicht. Das SPD-Ergebnis bei der Europawahl von 13,9 Prozent ist eine schwere Hypothek, gerade für den Kanzler. Aber das sieht man ihm am Wahlabend nicht an. Man könnte zugespitzt sagen: Er strahlt genau so wie auf den Wahlplakaten zur Europawahl, wo er ja flächendeckend geworben hat, mit dem Slogan: „Auf den Kanzler kommt es an“. Das wiederum hat ganz offensichtlich zwar nicht die Wähler beeindruckt, könnte aber für die nahe Zukunft eine zutreffende Aussage sein. Immerhin kann man Scholz nicht absprechen, den Mut gehabt zu haben, die SPD-Spitzenkandidatin mit seinem Konterfei unterstützen zu wollen (worauf Merz, Söder, Lindner, oder auch Habeck verzichtet haben). Als am Wahlabend alle den Kanzler nach Antworten fragten, beschied er einer Fragestellerin schlicht: „Nö.“ Ein typischer Scholz.

Bei soviel „Nö“ meldet sich nun ein Mann immer lautstarker zurück, der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel, der immer ein Bauchgefühl hat, wenn etwas ins Rutschen kommt. Unter seiner Führung gab es noch bessere Ergebnisse. Er mahnt schon länger einen härteren Kurs bei der Migration an, hält Scholz vor, seine Wende, auch wieder nach Afghanistan und Syrien abschieben zu wollen, komme sehr spät. Bei nicht mal 14 Prozent und Platz drei hinter der AfD brauche es eine „tabulose Analyse darüber, was WIR falsch machen. Es muss eine ganze Menge sein. Haben wir den Mut dazu?“, schreibt Gabriel im Kurznachrichtendienst X. Und er legt nach: „Die Bevölkerung ist durch mit dieser Regierung“, sagt Gabriel dem Tagesspiegel.

Was die SPD jetzt von Scholz erwartet

Bisher war die Geschlossenheit der SPD das große Plus, dem Kanzler wurde bei fast allem gefolgt.  Aber bekanntlich hat Scholz ja nicht den Vorsitz der Partei (wie es sonst bei Kanzler/innen oft üblich war). Nun wird von SPD-Chef Lars Klingbeil bis zu Generalsekretär Kevin Kühnert eines klargemacht: Der Druck auf die FDP und ihren Vorsitzenden Christian Lindner soll deutlich erhöht werden. Das richtet sich an Scholz, dessen Beinfreiheit dadurch also spürbar schwinden wird.

SPD-Chef Lars Klingbeil hat offen die FDP und besonders Parteichef und Finanzminister Christian Lindner in der Debatte um den Haushalt 2025 herausgefordert, indem er sagt, 30, 40 Milliarden Euro ließen sich nicht einsparen.  Bei der Bundestagswahl 2021 habe man die Stimmen von zwölf Millionen Wählerinnen und Wähler bekommen, sagt auch der SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert. „Sie wollen uns kämpfen sehen, und viele wollen uns deutlich stärker kämpfen sehen.“ Soll heißen: Einen Sparhaushalt zulasten des Sozialen „kann und wird es nicht mit der Sozialdemokratie geben“, so Kühnert entsprechend kämpferisch.

Die Reaktion von Christian Lindner folgte ganz kühl auf dem Fuße: Er erwarte, dass der Kanzler den Koalitionsvertrag „gegenüber seinen Leuten durchsetzt“, weil dieser Grundlage seiner Kanzlerschaft sei. Im Koalitionsvertrag hätten die Ampelparteien Steuererhöhungen ausgeschlossen und zugleich festgeschrieben, „die Vorgaben der Schuldenbremse“ einzuhalten, so Lindner. Man darf allerdings bei aller Bewunderung für Lindners Hartnäckigkeit anmerken, dass dieser Koalitionsvertrag quasi in einer anderen Zeit geschrieben wurde. Nämlich vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine.

„Wir wollen euch kämpfen sehen!“

Die Krux an Kühnerts und Klingbeils Fußball-Metapher ist natürlich, dass normalerweise die wütenden Fans singen: „WIR wollen euch kämpfen sehen.“ Das ist immer auch ein Treuebeweis. Einfach nur zu behaupten: „DIE wollen uns kämpfen sehen“ ist ein Geisterspiel.