Zuerst schien es so, dass nach dem Auftreten der ansteckenderen Omikron-Variante des Corona-Virus eine Impfpflicht in Deutschland sehr schnell kommen würde. Selbst die FDP sah ihre Gewissheiten erschüttert. Denn durch diese Mutation nimmt die Pandemie noch viel mehr Fahrt auf und droht die kritische Infrastruktur des ganzen Landes lahm zu legen. Leere Regale im Supermarkt, weil Zulieferer und Mitarbeiter krank fehlen, kaum noch gesundes Personal in den Krankenhäusern, bei Polizei und Feuerwehr, sogar Sorgen bei der Strom- und Wasserversorgung der Bevölkerung. Da waren sich (fast) alle politischen Lager schnell einig, dass die Impfpflicht unumgänglich sein wird. Doch dann hat ausgerechnet Omikron für eine gedankliche Wende gesorgt. Inzwischen hören sich die Wortmeldungen aus den Parteien zum Thema Impfpflicht wieder so an, als wolle man parteipolitisches Profil schärfen.
Man nutzt besonders in Unionskreisen, die sich ja jetzt als Opposition üben, das Momentum dafür, Kanzler Olaf Scholz zu attackieren. Die Regierung unter Scholz solle jetzt gefälligst mal einen Gesetzesentwurf zur Impfpflicht vorlegen, und zwar zügig. Ständig wird darauf rumgeritten, dass Scholz im November vergangenen Jahres gesagt habe, dass es in Deutschland eine Impfpflicht bis spätestens Anfang März geben solle. Ergo: Man will Scholz als einen hinstellen, der nicht liefern kann was er versprochen haben soll. Das ist aber reine Parteipolitik, die einer Debatte um eine Impfpflicht in Deutschland nicht gerecht wird.
Natürlich mutet es kurios an, wenn nun verlautbart wird, dass der Bundestag so schnell gar keine Beschlüsse fassen könne, weil im Februar nur eine Sitzung geplant ist – wegen Karneval! Also wegen etwas, das gar nicht stattfinden wird, weil Omikron es hinweg gefegt haben wird. Das nennt man deutsche Bürokratie! Wenn Kanzler Olaf Scholz dazu einfach sagen lässt, dass er dem Bundestag den Zeitlplan überlassen wolle, dann ist das schon eine Steilvorlage für die Opposition, aus dem selbsternannten „Macher“ Scholz den „Wegducker“ Scholz zu stilisieren.
Dennoch geht ein solches politisches Gezerre am Wesentlichen vorbei. Denn in Wahrheit hat Scholz seine Linie nie verlassen. Er hat ja von Anfang an betont, dass er in der wichtigen Frage einer Impfpflicht den Fraktionszwang aufheben will und jeder im Bundestag nach seinem Gewissen darüber abstimmen soll. Indem er schon gleich betont hat, dass er dann als Abgeordneter für die Impfpflicht stimmen werde, hat er auch klar gemacht, dass dies nicht in seiner Eigenschaft als Regierungschef geschieht. Und selbst seine zeitlichen Vorstellungen, bis wann das Gesetz durch den Bundestag kommen könne, hat er stets mit der Formulierung „idealerweise“ versehen.
Wieder murrt der Grüne Winfried Kretschmann.
Winfried Kretschmann (Grüne), Ministerpräsident in Baden-Württemberg knurrt vernehmlich dazu. Er kritisiert die Verzögerung bei der Einführung einer Impfpflicht. Die Ministerpräsidenten hätten die Bundesregierung und den Bundestag schon vor Weihnachten aufgefordert, einen Zeitplan vorzulegen. „Das ist nicht erfolgt bisher. Ich bin mit dem ganzen Verfahren unzufrieden.“
Er sehe nicht, dass die Debatte über die Impfpflicht im Bundestag zügig in die Gänge komme, sagte Kretschmann. „Wir verlieren sehr viel Zeit.“ Wie so oft ist Kretschmann hier auf einer Linie mit den Ministerpräsidenten der unionsgeführten Länder, die ebenfalls auf eine rasche Einführung einer allgemeinen Impfpflicht drängen.
Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki, ein ausgewiesener Gegner einer Impfpflicht, wies diese Forderung der Union nach der schnellen Einführung einer allgemeinen Impfpflicht zurück. „Ich bin froh, dass der Deutsche Bundestag sich Zeit nimmt. Denn Eile ist in dieser Frage, glaube ich, der falsche Ratgeber“, so der stellvertretende FDP-Vorsitzende im ZDF- „Morgenmagazin“.
Ist sich die Ampel-Regierung uneins?
Die Frage lautet also, ob Kanzler Scholz der FDP zuliebe so defensiv agiert. Dies wäre übrigens ja auch nicht zu verurteilen, da er hier mit Zwang nichts ausrichten könnte. Darüber hinaus ist es so, dass nicht nur FDP-Chef Lindner sich persönlich noch unentschieden in der Frage der Abstimmung über die Impfpflicht geoutet hat, sondern auch Kevin Kühnert, der neu Generalsekretär der SPD. Einzig die Grünen sprechen diesbezüglich mit einer Stimme, mit Kretschmann in der Position des „Schlachtrosses.“ Britta Haßelmann, die Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Grünen, rechnet mit einer Entscheidung des Bundestags über eine Impfpflicht gegen das Coronavirus im ersten Quartal. Unter den Abgeordneten kristallisierten sich drei Positionen für die entsprechenden Gruppenanträge heraus, sagte Haßelmann weiter. Die einen lehnten eine Impfpflicht ab, die anderen plädierten für ein Stufenmodell. Dazu kämen drittens die Befürworter einer Impfpflicht für alle Menschen ab 18 Jahren. Sie selbst sei für eine allgemeine Impfpflicht für Erwachsene, sagte die Grünen-Fraktionschefin. Dafür werben auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach und der Abgeordnete Olaf Scholz (beide SPD).
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) riet ebenfalls zu einer schnellen Abstimmung und kündigte im Falle einer Zustimmung eine rasche Umsetzung an. „Gesetzgebungsverfahren dauern in der Regel sechs bis zwölf Monate. Bei der Entscheidung über eine Impfpflicht wird es deutlich schneller gehen“, so Buschmann, der sich selbst laut eigener Aussage noch nicht entschieden habe, wie er abstimmen möchte.
CDU und CSU wollen das Thema nutzten, um die Regierung vor sich herzutreiben. Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus und NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst werfen Scholz vor, die Impfpflicht zu verschleppen. Der designierte CDU-Vorsitzende Friedrich Merz äußerte sich ebenso. Der stets geistig tief fliegende CSU-Politiker Scheuer (ja, der mal der Maut-geht-nicht-Verkehrsminister war) forderte gar, Scholz müsse wegen der Impfpflicht die Vertrauensfrage stellen.
Warum Omikron Zweifel an der Impfpflicht weckt.
Es gibt hier wichtige Fragen, die noch nicht endgültig geklärt werden können. Zwar legen Daten aus Südafrika und Großbritannien nahe, dass die Omikron-Variante des Virus milder sein könnte als seine Vorgänger. Ob sich solche Zahlen auch auf Deutschland übertragen lassen, ist jedoch ungewiss. Aber klar, das hat der Hoffnung Vorschub geleistet, dass Omikron den Job der fehlenden Impfungen übernimmt, weil es in kürzester Zeit mindestens alle jene infiziert, die keinen Schutz haben und dann im Idealfall für lauter Genesene sorgt. Die Weltgesundheitsorganisation WHO erwartet eine explosionsartige Ausbreitung der Coronavariante Omikron in Europa. Man erwarte, dass sich mehr als 50 Prozent der Bevölkerung in Europa bereits in den kommenden sechs bis acht Wochen mit Omikron angesteckt haben werden, so die WHO. Die WHO warnte allerdings davor, Covid-19 als eine endemische Erkrankung wie die Grippe zu behandeln. „Wir haben immer noch eine große Ungewissheit und ein Virus, das sich recht schnell weiterentwickelt und uns vor neue Herausforderungen stellt. Wir sind sicherlich noch nicht an dem Punkt, an dem wir es als endemisch bezeichnen können“, sagte die WHO-Notfallexpertin Catherine Smallwood.
Dennoch könnte es passieren, dass die höchst rasante Omikron-Entwicklung den Zeitplan für eine Impfpflicht in Deutschland obsolet macht. Denn bis eine solche beschlossen ist, selbst im ehrgeizigsten Falle, ist die Omikron-Welle ja längst durch das Land gefegt. Und man muss ja auch dazu sagen: Wer sich impfen oder boostern lassen will, kann dies ja jederzeit tun. Die Impfpflicht zielt ja „nur“ auf jene ab, die sich bisher nicht impfen lassen wollen. Und die wird Omikron schon vorher erwischt haben, sofern sie nicht als Aussiedler in fernen Wäldern leben.
Omikron stellt aber auch sonst einige Fragen an eine eventuelle Impfpflicht. Zum Beispiel jene nach dem passenden Impfstoff. Kann der Staat eine Impfpflicht einführen, ohne den an die herrschende Omikron-Variante angepassten Impfstoff zu haben? Der soll ja frühestens im Sommer zur Verfügung stehen. Was bringt eine Impfpflicht, wenn auch Geimpfte das Virus weiter tragen? Dies alles spricht dafür, dass es eine ausführliche Debatte im Bundestag geben muss. Das hat Scholz schon früh erkannt.