Es geht um eine Kultur des Scheiterns, Interview mit Lars Eidinger

Der erfolgreiche Schauspieler Lars Eidinger hat auf der Bühne und im Film eine überragende Präsenz, wovon auch der neue Kinofilm „Lars Eidinger – Sein oder nicht Sein“ zeugt. Im Gespräch zeigt er sich offen, reflektiert und nachdenklich.

Foto: Filmwelt Verleihagentur

Lars Eidinger ist in jeder Hinsicht ein außergewöhnlicher und interessanter Schauspieler. Auf der Bühne und im Film überzeugt er durch seine enorme körperliche Präsenz, sein variationsreiches und immer wieder überraschendes Auftreten und große Emotionalität. Gerade ist der Film „Lars Eidinger – Sein oder nicht Sein“ über ihn und seine intensive Arbeitsweise im Kino angelaufen. Im Gespräch reflektiert er über Weinen auf Knopfdruck, Bühnenpräsenz, eine Kultur des Scheiterns und seinen Schuhtick.

In diesem Film gibt es eine „Jedermann“-Probe in Salzburg, bei der Sie in Ihrer Rolle richtig weinen, sogar Rotz aus Ihrer Nase läuft. Sind Sie in diesem Moment angstfrei? Oder vielleicht sogar emotional freier als im Alltag?

Lars Eidinger: Gute Frage. Ich drehe gerade mit Matthias Glasner den Film „Sterben“. Dort spiele ich einen Dirigenten und es gibt eine Szene laut Drehbuch, wo ich vor dem Orchester stehe und weine. Nach dem Drehtag kam einer der Musiker zu mir und fragte mich, wie ich das mache, auf Knopfdruck zu weinen. Ich habe ihm erzählt, dass meine Frau, die klassischen Gesang an der Hanns-Eisler-Hochschule in Berlin studiert hat, mir mal gesagt hat, es gibt die sogenannte Zehntausend-Stunden-Regel. Wenn ein Musiker zehntausend Stunden übt, beherrscht er sein Instrument. Ich würde einfach sagen, ich habe zehntausend Stunden geübt. Das ist in gewisser Weise eine Form von Virtuosität. Manchmal gelingt es mir, manchmal aber auch nicht.  Aber wenn es mir gelingt, ist das eine Hochleistung, wie ein Sportler oder eine Sportlerin, die vier Jahre trainieren, damit sie bei der Olympiade im entscheidenden Moment die Latte überspringen. 

Es gibt im Film auch diesen Moment, wo Sie bei einer emotionalen Probenszene plötzlich innehalten, sich beim Regisseur beschweren, dass er nicht aufmerksam ist, und dabei voll ausrasten. Das ist nachvollziehbar, weil Sie ja alles gegeben hatten, rückblickend jedoch scheint es auch möglich, dass dieser Ausraster auch eine Form Ihrer Spielfreude, Ihrer Bühnenpräsenz war.

Lars Eidinger: (Lacht) Generell versucht der Film ja auch ein bisschen mit dieser Idee oder auch diesem Missverständnis aufzuräumen, dass das spielerische Moment nicht den gleichen Wert wie der real erlebte Moment hätte. Das geht auf das Zitat von Katja Ebstein zurück, „Alles ist nur Theater, ist doch auch Wirklichkeit“. Das heißt, vielleicht bin ich im Spiel sogar aufrichtiger und wahrhaftiger. Deshalb verstehe ich solche Sätze nicht, wie ‚das war ja nur gespielt‘ oder ‚mach mal nicht so viel Theater‘. Wobei dieser Moment bei den Proben tatsächlich nicht gespielt war. Aber was interessanterweise stimmt, dass dieser Moment wahrscheinlich nicht so eskaliert wäre, wenn die Kamera nicht dabei gewesen wäre. Man würde ja das Gegenteil vermuten und denken, da hat er sich selber und die Kamera vergessen. Aber weil die Kamera lief, habe ich etwas versucht, was einem, wie vorhin beschrieben, nicht so häufig gelingt, und zwar, in eine echte Emotion zu kommen. Und das gelingt mir da. Der Regisseur geht einfach weg und redet mit der Assistentin, und ich kann gar nicht begreifen, dass er kein Bewusstsein hat, dass ich das ja gerade mit ihm zusammen mache oder für ihn. Und dass es gar keinen Sinn macht, wenn ich es für mich machen würde. Es bringt ja nur etwas in der Auseinandersetzung, in der Kommunikation. Deshalb finde ich den Begriff „Unterhaltung“ im Deutschen so treffend. In der Musik wird unterschieden zwischen U und E., die Unterhaltung und die ernste Musik.  Für mich ist das U auf jeden Fall das E. Die Unterhaltung, dass ich in dem Moment mit meinem gegenüber kommuniziere, ist mir ganz wichtig, sogar der eigentliche Antrieb. Wenn das Gegenüber sich plötzlich raus zieht, dann weiß ich gar nicht mehr, warum ich überhaupt spielen soll. Das wäre so, wie wenn ich Ihnen das jetzt erkläre und Sie das Telefon auflegen. Dann würde ich ja nicht weiter reden.  

Sie sagen im Film, dass Sie früher nicht verlieren konnten, weder beim Tennis noch bei Gesellschaftsspielen. Sind Sie der Gewinnertyp schlechthin oder sind Sie einer, dem nichts zufällt und der sich quälen muss, um zu gewinnen?

Lars Eidinger: (Er denkt lange nach) Ich habe neulich mit jemandem gesprochen, der meinte, dass die Eltern einem oft unfreiwillig Namen geben, die das ganze Leben überschreiben. Und interessanterweise heißt Lars ‚der Sieger‘, ‚der Lorbeerbekränzte‘, Laurentius. Das ist schon ein Thema, an dem ich mich abgearbeitet habe, aber diesen Bogen schlägt der Film im Grunde auch.  Ich dachte lange, dass ich nur geliebt werde oder nur Anerkennung und Bestätigung erfahre, wenn ich als Sieger vom Platz gehe, und dafür habe ich mich so angestrengt. In gewisser Weise habe ich damit meinen Frieden geschlossen. Ich habe gemerkt, dass es eigentlich darum geht, eine Kultur des Scheiterns zu entwickeln. Es kann nicht nur vordergründig darum gehen, zu siegen. Im Grunde kann man diesen Moment, über den wir so lange gesprochen haben, auch unter diesem Gesichtspunkt behandeln. Ich weiß, dass ich da nicht besonders siegreich aus der Situation gehe und nicht sehr souverän wirke, aber ich finde diesen Moment für den Film essenziell.  Da versteht man am meisten, was Schauspielerei eigentlich meint.

Sie sagen ja auch den starken Satz, dass Sie das Scheitern als Möglichkeit anerkennen. Kann man sich erst mit dieser Haltung ultimativ bewegen und berühren lassen, weil einem dann nicht mehr wirklich etwas passieren kann?

Lars Eidinger: Stimmt. Sehe ich genauso.

Ist dadurch also erst eine solche Bühnenpräsenz, wie Sie sie haben, möglich?

Lars Eidinger: Ja, wobei dieser unbedingte Wille, sich durchzusetzen oder zu behaupten, hat mir schon sehr auf meinem Weg geholfen, glaube ich. Ich habe sehr intensiv Tennis gespielt, mit Trainingscamps in Florida und Turnierreisen in die Normandie. Das war alles sehr von einem großen Ehrgeiz getrieben. Das hat mir auch geholfen, da hin zu kommen, wo ich jetzt bin. Dieses Phänomen der Präsenz ist auch etwas, was mich sehr beschäftigt hat. Es hat mich immer irritiert bis geärgert, wenn es auf der Schauspielschule hieß, es gibt Schauspielerinnen und Schauspieler, die sind präsent und welche, die sind es nicht. Als wenn es etwas wäre, was einem in die Wiege gelegt wurde und worauf man keinen Einfluss hat. Ich habe dann dieses Phänomen der Präsenz für mich untersucht und meine herausgefunden zu haben, was es eigentlich beschreibt. Und es beschreibt nichts anderes, als dass ich auf mich aufmerksam mache, in dem ich im Zuschauer ein Bewusstsein wecke, dass ich da bin, in diesem Moment. Das reine Bewusstsein von der Unmittelbarkeit. Und das ist etwas, was kurioserweise im Theater fast verloren gegangen ist. Mir wurde es auch ganz anders beigebracht. Mir wurde gesagt, bitte wiederhole das, was wir bei der Probe verabredet haben und weiche davon nicht ab. Und so entsteht diese Situation, dass man etwas aus der Vergangenheit spielt, was für die Zukunft Gültigkeit haben soll. Ich versuche aber immer, das, was ich mache, auf den augenblicklichen Moment, auf die Gegenwart zu überprüfen und dem anzupassen. Und das provoziert Präsenz. 

Sie outen sich im Film auch als Schuhfetischist. Schuhe als I-Tüpfelchen, wodurch eine Rolle erst ganz eingenommen werden kann. Das beinhaltet also mehr als nur den Gang einer Person?

Lars Eidinger: Ich habe tatsächlich einen Schuhtick, aber in der Hinsicht, dass ich privat immer das gleiche Paar Schuhe trage. Weil ich auch da das Gefühl habe, ich bin eigentlich nur in den Schuhen ich selbst. Ich kann mit anderen Schuhen gar nicht aus dem Haus gehen.

Interessant, weil Sie ja auf der Bühne, je nach Rolle, ständig andere Schuhe anhaben…

Lars Eidinger: (Lacht) Ja, aber diese Schuhe, die ich auch jetzt anhabe, sind auch danach ausgesucht, dass sie mir entsprechen. Ein dünner Wildlederschuh, der etwas Tänzerisches hat und dessen Absatzhöhe in einem guten Verhältnis zu meinem Gang steht. So was muss man für sich finden, und das ist dann der Schuh.

Thomas Ostermeier, der Regisseur und künstlerische Leiter der Berliner Schaubühne, zu deren Ensemble Sie seit vielen Jahren gehören, sagt im Film, dass er befürchtet, dass Sie sinnbildlich einen „Vatermord“ begehen würden. Und Sie sagen, unabhängig davon, dass Sie sich von  ihm emanzipieren und „loslassen“ müssten. Wissen Sie wohin Ihr Weg Sie führt?

Lars Eidinger: (Er denkt lange nach) Das ist interessant, weil ja auch dieser Moment mit dem „Jedermann“-Regisseur Michael Sturminger wie eine klassische Übertragung ist. Ich begehre da im Grunde auch gegen meinen Vater auf. Und das ist bei Thomas Ostermeier natürlich unweigerlich auch so. Ich kann seine Befürchtung verstehen, aber das ist ein ganz wichtiger Prozess. Ich glaube, das Wichtigste daran ist eigentlich, dass man sich nicht absichert dadurch, dass man weiß, was dann kommt, wenn man das eine aufgibt. Ich glaube, dass es aus kreativer Sicht ganz wichtig ist, dass man völliges Neuland betritt. Wie bei einer gelungenen Improvisation, es ist nur dann interessant, wenn ich wirklich nicht weiß, was jetzt passiert. Das ist etwas, was die wenigsten beherrschen und was auch oft missverstanden wird. Die Leute denken oft, dass Improvisation etwas mit Virtuosität zu tun hat. Improvisation ist ein ähnlicher Ansatz wie das, worüber wir gerade geredet haben, sie schließt die Möglichkeit des Scheiterns ein. Und das passiert mir auch ab und zu auf der Bühne, dass ich scheitere. Und das ist für mich genauso schwer zu ertragen, wie für die, die sich das anschauen.  Das heißt, wenn ich mich von Thomas Ostermeier emanzipieren will, versuche ich eigentlich ins Ungewisse zu gehen. Deshalb kann ich die Frage gar nicht beantworten, wohin der Weg dann führt. 

Sie sagen, man müsse das Visier öffnen, um Intensität und Euphorie zu erleben. Sie fotografieren auch und haben demnächst in Klagenfurt eine Ausstellung. Ist dieses Visier-öffnen ebenso  schauen wie angeschaut zu werden?

Lars Eidinger: Interessant, da eine Parallele zu sehen. Oft höre ich als Reaktion auf meine Fotografien, ‚Was du alles siehst‘. Aber das, was ich fotografiere sind keine Kuriositäten und auch nicht besonders schwer zu finden. Man muss nicht danach suchen, man muss sich nur öffnen dafür. Viele Leute sind einfach stumpf geworden ihrem Umfeld gegenüber. Aus einer Form des Selbstschutzes fängt man an, sich unabhängig zu machen von seinem Umfeld. Und ich versuche halt, mich möglichst empfänglich zu machen. Das lädt aber auch extrem dazu ein, verletzt zu werden.

Wie gehen Sie mit solchen Verletzungen um?

Lars Eidinger: Naja, in dem Sinne von … aber das ist vielleicht missverständlich… Mir drängt sich gerade dieses Bild auf von Jesus, der sich als Stellvertreter ans Kreuz nageln lässt. Es ist ja interessant, dass es die Aufgabe war, sich als Mensch auf die Erde zu begeben, um zu zeigen, dass man dafür ans Kreuz genagelt wird. Man fragt sich ja bei diesem Bild des Kruzifx, warum da nicht der Satan hängt.  Warum wir daran erinnert werden sollen, dass wir unsere Ideale verraten, dass wir sozusagen das menschliche Ideal ans Kreuz schlagen. Das sind so Gedanken, die ich mir mache. Ich habe das Gefühl, der Grund, warum man für bestimmte Sachen gelyncht oder gekreuzigt wird, hat auch viel damit zu tun, dass sich die Leute da selbst sehen und förmlich vor ihrer eigenen Fratze erschrecken.  Es gibt ein schönes Zitat von … tut mir leid, es ist leider von Charles Manson…

… erst Jesus, jetzt Manson, wir bringen alle unter…

Lars Eidinger: … aber es ist trotzdem ein tolles Zitat. „Look down at me and you see a fool, look up at me and you see a god, look straight at me and you see yourself“ („Schau herab auf mich und du siehst einen Dummkopf, schau hoch zu mir und du siehst einen Gott, schau gerade auf mich und du siehst dich selbst“).

Interview: Barbara Breitsprecher
Das komplette Gespräch können Sie unter
www.barbarabreitsprecher.com lesen.