Es gibt französische Rätsel, die für Deutsche nicht zu lösen sind. Nehmen wir nur mal die Sache mit dem Baguette. Das ist in Frankreich halt so lecker, aber es kann nicht auf deutsch kopiert werden. Du kriegst das knusprige Teil in Frankreich an jeder Ecke, aber so gut wie keine Bäckerei in Deutschland hat es drauf, es französisch knackig zu backen. Oder nehmen wir nun die Debatte in Frankreich über die dortige Rentenreform. Dort soll das Eintrittsalter von 62 auf 64 Jahre erhöht werden – in Deutschland liegt es ja bei 66 Jahren – und das sorgt für landesweite, wütende Streiks. Das geht vermutlich auf eine französische DNA zurück, die ihre Wurzeln bereits in der französischen Revolution schlug. Alle Obrigkeit muss bekämpft werden. Damals war es die Monarchie und heute ist es eben der Staat. Das französische Selbstverständnis ist demnach, dass der Staat der Feind ist, sei es der Polizist, der Lehrer oder gar der Präsident. So rückt der „Staat“ an die Stelle jedweder Obrigkeit, ganz unberührt davon, dass doch eigentlich „das Volk“ nach der französischen Revolution die Herrschaft übernommen hat.
Die Reform des französischen Rentensystems ist das wohl heikelste Vorhaben in der zweiten Amtszeit von Präsident Emmanuel Macron. Die Pläne der Regierung sehen unter anderem vor, das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre zu erhöhen und die Beitragsdauer auf 43 Jahre zu verlängern. Im Vergleich zu dem, was in anderen europäischen Ländern bereits gilt, wäre das noch zurückhaltend. In Deutschland sollen die Menschen künftig bis 67 arbeiten, in den Niederlanden und in Italien womöglich sogar bis über 70.
Derzeit liegt das Renteneintrittsalter in Frankreich zwar bei 62 Jahren. Tatsächlich beginnt der Ruhestand im Schnitt aber später: Wer nicht lang genug eingezahlt hat, um Anspruch auf eine volle Rente zu haben, arbeitet länger. Mit 67 Jahren gibt es dann unabhängig von der Einzahldauer eine Rente ohne Abschlag – dies will die Regierung beibehalten. Und die monatliche Mindestrente will sie auf etwa 1200 Euro hochsetzen. Über eine solche Mindestrente wären wohl viele angehende Rentner in Deutschland froh, denen Altersarmut droht, wenn sie nicht privat vorgesorgt haben.
Aber bitte, in Frankreich geht es sofort um den Sinn des Lebens. Man versteht sich dort als Vorreiter von Demokratie, quasi in der Tradition der französischen Revolution. Der Dreiklang von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit schwingt immer mit. Wird es besser, wenn man länger, mehr und produktiver arbeitet? Oder nimmt man einem langen Leben die besten Jahre, wenn man später in Rente geht? Sollen Leistungen wie die Rente über die Arbeit finanziert werden – oder wäre es nicht gerechter, die Vermögen dazu heranzuziehen? Das sind die Fragen, die man sich in Frankreich stellt. In Deutschland wären solche Fragen buchstäblich ein rotes Tuch. (Siehe dazu auch Seite 8)
Doch das französische Bewusstsein ist ein anderes: Wir haben schon einmal alles anders gemacht, also kann es wieder geschehen – lautet das Mantra der Streikenden und jugendlichen Protestierer. Und je größer die Widerstände sind, desto entschlossener die Aktionen, denn es darf keine Schwäche (und noch nicht einmal eine Pause) geben im Kampf für die „Faulheit“ (wie das Gerhard Schröder bei Einführung seiner Agenda 2010 nannte).
In Frankreich ist der Widerstand gegen die Rentenreform groß. Laut Umfragen sind mehr als zwei Drittel der Bevölkerung gegen die Pläne. Die Gewerkschaften halten das Projekt der Regierung Macron für ungerecht und sogar für „brutal“. Es gab spontan einen Generalstreik, und es gingen 1,27 Millionen Menschen auf die Straßen. Metrostationen waren geschlossen, Züge fielen aus, in den Schulen, Rathäusern und Raffinerien des Landes legten die Französinnen und Franzosen ihre Arbeit nieder. Am 7. März legte ein erneuter Generalstreik Frankreich komplett lahm. Es könnte der größte Streiktag seit den 1990er-Jahren gewesen sein. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Macht der Straße in Frankreich siegt.