Sagen wir, du bist nach der Fußball-WM 2006, dem „Sommermärchen“, zum Mond geflogen und kommst gerade erst zur Erde zurück. Hier unten würde man dir erzählen, dass ab dem 20. November die Fußball-WM 2022 stattfindet, was würdest du wohl sagen? Eine WM im Winter? Eine WM in der Wüste? Eine WM in voll klimatisierten Stadien, obwohl es ja im Winter selbst in Katar gar nicht so heiß ist? Nie im Leben! So etwas macht der Fußball doch nicht mit, jede Wette! Doch man würde dich dann fragen: Sag mal, kommst du eigentlich von hinter dem Mond? Denn es ist wahr: Die Fifa-WM in Katar stellt alles auf den Kopf, was zuvor galt. Und apropos Kopf: Dieser Kick basiert auf einem geistigen Schaden – doch dazu kommen wir noch.
Aber was jetzt? Großes Dilemma: Die Spiele im TV anschauen oder nicht? Was soll es bitte bringen, sich die WM-Kicks nicht zu gönnen? Natürlich werden die Einschaltquoten weltweit wieder so hoch sein, dass sich das alles für die Fifa (in Geld) und Katar (in Image) rechnen wird.
Doch der Fußball wird leiden. Denn es gibt einen Punkt (also nicht der von elf Metern), an dem es so irrwitzig abläuft, dass die Kugel und der Kopf keinen Kick mehr kriegen. Die Spiele vor dem TV zu verfolgen wird so abstrakt sein, wie ein PC-Spiel. Da ist halt eine grüne Fläche, auf der die weltbesten Fußballer sich messen, aber wo genau das ist, Katar oder hinterm Mond, interessiert keinen. Kann man sich zumindest einreden vor der Mattscheibe.
Doch wie sieht das für jene Fußball-Fans aus, die live in Katar dabei sein wollen? Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser hat kürzlich nach einem Besuch in Katar verkündet, dass sie eine „Sicherheitsgarantie“ bekommen habe, dass alle deutschen Fußball-Fans sicher durch das Land reisen könnten. Man weiß nur nicht so genau, ob dieser Scheck der Scheichs auch gedeckt ist. Der WM-Botschafter Khalid Salman hatte jedenfalls unbändige Lust, mit dem ZDF-Reporter Jochen Breyer für dessen Dokumentation „Geheimsache Katar“ zu reden, obwohl eine extra abgestellte Zensurwache dies ständig verhindern und das Gespräch abbrechen wollte: „Lass uns zum Beispiel über Schwule reden“, sprach Salman also in Mikros und Kamera. Und sagte dann: „Es ist ein geistiger Schaden.“ Und übrigens war sein „zum Beispiel“ durchaus angebracht, weil man „zum Beispiel“ auch über die Rechte der Frauen im Land bestimmt schön hätte quatschen können.
Stellvertretend hat dann Nationalspieler Leon Goretzka gesagt, dass hier „ein Menschenbild aus einem anderen Jahrtausend“ sichtbar würde. Das wiederum verkennt allerdings, dass in Deutschland bis ins Jahr 1994 Sex unter Männern noch verboten war und mit Haftstrafen bis zu fünf Jahren geahndet werden konnte (damals galt Paragraf 175 des Strafgesetzbuches). Es ist vielleicht nicht unerheblich, dies zu wissen. Denn es könnte davor schützen allzu selbstgerecht zu urteilen. Und umgekehrt: Es ist keine Entschuldigung für Katar, wenn man dort „nur“ 28 Jahre hinterher hinkt. Denn es macht die homophobe Angelegenheit nur umso brisanter, weil sie eben nicht Jahrtausende weit weg ist. Auch nicht in deutschen Köpfen.
Laut Amnesty International starben mehr als 15.000 Niedriglohn-“Gastarbeiter“ (in Wirklichkeit völlig rechtlose Menschen, die Leib und Leben für wenig Geld gaben, das sie oft noch nicht einmal bekamen) bei der Errichtung der Infrastruktur (also der Stadion, Zufahrten etc.) für diese WM 2022 in Katar. Ist das jetzt egal, wenn der Kick losgeht? Kann man das ausblenden, weil es ja eh schon passiert ist? Soll man wie bei der WM in Russland 2018 wegsehen? Siehe Putin heute!
Es ist ein bisschen wie mit Gott und der Kirche. Was die Institution Kirche anrichtet, muss man nicht zwingend Gott in die Schuhe schieben. Was die Fifa verbricht, muss nicht die Schuld des Fußballs sein. Gott und der Fußball werden jeweils benutzt, um von eigensüchtigen Machern ins goldene Kalb verwandelt zu werden. Nun ja, manche glauben an Gott, manche an den Fußball und manche an beides (Fußballgott!). Kann aber sein, dass bei dieser WM 2022 in Katar so mancher Fan vom Glauben abfällt.