Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. So heißt es im Volksmund. Bei Deutschlands Häuptling Silberlocke, auch Bundespräsident genannt, war das Schweigen in seiner Rede an die Nation nicht ganz so golden. Frank-Walter Steinmeier hat es gut gemeint, aber irgendwie fehlte der Ruck in seiner Rede – sie war vielmehr stets bemüht. Und das lag eben auch daran, dass es ihr an Klarheit fehlte. Sie war nicht konkret genug, um die Bürger wirklich mitzunehmen. Es gibt ja andere Beispiele großer Reden: Mario Draghi sagte am 26. Juli 2012 als EZB-Präsident während einer Rede in London den einen Satz: „Whatever it takes“, und rettete damit den Euro. Martin Luther King sagte in einer Rede am 28. August 1963: „I have a Dream.“ – ein Satz, der bis heute Menschen verbindet. Von der Grundsatzrede des deutschen Bundespräsidenten im Oktober 2022 wird wohl kaum etwas von solchem Belang in Erinnerung bleiben. Und zwar deshalb nicht, weil er an der falschen Stelle schwieg. Über sich selbst und seine Verantwortung. Über seine eigenen Fehler gegenüber Putin und Russland. Sein Schweigen darüber war Blei, das seine gesamte Rede in die Tiefen der Bedeutungslosigkeit zog.
Im Versuch eines großen Bogens bemühte Steinmeier die Metapher vom Wind. Er sagte, die Zeit vor dem russischen Angriff auf die Ukraine sei „eine Epoche mit Rückenwind“ gewesen. Das führte er historisch weiter aus: „Es waren Jahre, geprägt vom Glücksmoment der deutschen Einheit , vom friedlichen Abzug der sowjetischen Truppen, vom Ende der Blockkonfrontation und dem Zusammenwachsen Europas“, sagte Steinmeier. Okay, stimmt so. Aber war es der Wind, das himmlische Kind, der dies alles zustande brachte? Waren es nicht vielmehr Menschen, durchaus auch Politiker, die diese gute Entwicklung der letzten Jahrzehnte durch ihre Visionen und ihr Tun geprägt haben?
Nun aber komme für Deutschland „eine Epoche im Gegenwind“, so Steinmeier weiter. Die Deutschen müssten deshalb von alten Denkmustern und Hoffnungen Abschied nehmen – „es kommen härtere Jahre, raue Jahre auf uns zu“, sagte Steinmeier. Mag sein, aber die „alten Denkmuster“ sind vor allem auch solche, die von deutschen Politikern wie eben Frank-Walter Steinmeier nicht rechtzeitig abgestreift wurden. Wurde somit also der „Gegenwind“ nicht ebenfalls (wie der „Rückenwind“ zuvor) von den politisch Verantwortlichen erzeugt oder mindestens begünstigt?
Das ist die verräterische Schwäche bei der Metapher von epochalem Rückenwind und künftigem Gegenwind, dass die Winde quasi aus dem Nichts kommen und gehen. Doch Politik ist kein Naturereignis, sondern kennt Ursache und Wirkung von politischem Handeln. Und an der Stelle, wo Steinmeier in seiner Rede auf diesen Umstand eingeht, macht er es umso schlimmer: Der Beginn des Krieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 markiere „das endgültige, bittere Scheitern jahrelanger politischer Bemühungen, auch meiner, genau diesen schrecklichen Moment zu verhindern“, führte Steinmeier aus. Das klingt nach: Alles richtig gemacht, aber leider hat es nicht geklappt. Die „Bemühungen“ werden geadelt als den Versuch, genau das zu verhindern, was heute geschieht. Und wenn einer „genau diesen schrecklichen Moment“ verhindern wollte, dann muss er ihn ja als solchen schon kommen sehen haben. Ja es schwingt sogar noch ein bisschen Selbstmitleid mit, dass man die bittere Pille des Scheiterns schlucken musste. Doch dieses Scheitern kam nicht mit einem plötzlichen Sturm auf. Denn bereits 2014 hatte Putin die Krim annektiert und dort schon mit dem Krieg gegen die Ukraine begonnen. Wenn also Bemühungen von Merkel, Steinmeier und Co. im Februar 2022 gescheitert sind, dann stellt sich schon die Frage, ob es Bemühungen in die falsche Richtung waren.
Steinmeier benutzt auch dazu ein Bild: Putin habe „nicht nur die Regeln gebrochen und das Spiel beendet – nein, er hat das ganze Schachbrett umgeworfen.“ Hier offenbart sich ein Verständnis von Politik als Schachspiel, das angesichts der blutigen Realität befremdet. Steinmeier hätte sich einfach für seine Fehler entschuldigen sollen.