Bundeskanzler Olaf Scholz hat kürzlich mit Präsident Putin telefoniert. Daran knüpfen sich viele Fragen auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Was soll das bringen? Warum gerade zu diesem Zeitpunkt? Wie muss man sich das vorstellen, mit einem Menschen zu telefonieren, der mit seinem Befehl zum Angriffskrieg schon zehntausende Menschen in einen grausamen Tod schickte, für unendliches Leid, völlige Zerstörung, Folter und Kriegsverbrechen verantwortlich ist? Ja, bei einem solchen Telefonat würden wir alle gern Mäuschen spielen, um den Wortlaut des angeblich 90minütigen Telefonats zu hören. Denn dieser Dialog würde uns viel mehr verraten als die dürren und völlig absurden Statements, die danach von beiden Seiten veröffentlicht werden. Nur zwei Wochen später hat Putin dann aller Welt erzählt, was er wohl auch Scholz am Telefon erzählte. Es war eine Hassrede auf den „Westen“, zur Feier der völkerrechtswidrigen Annexion ukrainischer Gebiete. Putin sprach dabei sogar von Satanismus der USA und deren Verbündeten.
Fangen wir aber mit den Verlautbarungen an, die nach dem Telefonat verbreitet wurden: In dem 90-minütigen Gespräch habe Scholz darauf gedrungen, dass es so schnell wie möglich zu einer diplomatischen Lösung des russischen Krieges in der Ukraine komme, die auf einem Waffenstillstand, einem vollständigen Rückzug der russischen Truppen und Achtung der territorialen Integrität und Souveränität der Ukraine basiere. Joa klar, das ist reines Blabla. Wir alle als Laien, aber auch Scholz wissen, dass dieses „Drängen“ nicht von Erfolg gekrönt sein dürfte. Es ist uns Bürgern und Wählern gegenüber sogar schon hart an der Grenze der mutwilligen Verarsche. Denn es ist ja sonnenklar, dass Kanzler Scholz nicht deshalb den „Gesprächsfaden wieder aufgenommen“ hat, weil er dachte, er könne Putin zum kompletten Einlenken bewegen. Muss man uns da die öffentliche Verbreitung offensichtlichen Unsinns echt zumuten?
Und siehe da, welch Wunder: Bei Putin erkannte Scholz keinerlei Änderung in seiner Haltung zum Krieg gegen die Ukraine. „Leider kann ich Ihnen nicht sagen, dass dort jetzt die Einsicht gewachsen ist, dass das ein Fehler war, diesen Krieg zu beginnen“, sagte Scholz nach dem Telefonat mit Putin. „Es hat sich auch nicht angedeutet, dass dort jetzt neue Haltungen entstehen.“ Nun ja, sagen wir so: Scholz will als Staatsmann agieren und die Inhalte des Gespräches für sich behalten.
Was aber war der Grund, warum Scholz nach Monaten wieder mit Putin telefonierte? Da er es uns ja nicht verrät, dürfen wir uns erlauben, da zu spekulieren. Auffällig war der Zeitpunkt, zu dem Scholz nach Monaten erneut zum Hörer griff, und zwar in doppelter Hinsicht: Einmal, weil da die Ukraine mit ihrer Gegenoffensive soeben einen militärischen Erfolg verbuchte, und zweitens weil genau deshalb auch die Rufe nach der Lieferung von modernen deutschen Leopard 2-Panzern immer lauter wurden. Wollte Scholz in dieser Gemengelage erkunden, wie Putin so drauf ist, um sich danach besser entscheiden zu können? Das wäre ja genau die Besonnenheit, die ihm oft von den Ampelpartnern bescheinigt wird. Es wäre ein durchaus lobenswertes Vorgehen, das leider nicht offen kommuniziert wurde, wie so oft, und Scholz deshalb nicht das Lob einbringt, das er vielleicht verdient hätte.
Scholz erzählte, die Telefonate mit Putin seien „immer im Ton freundlich“ gewesen. Dies sei so gewesen, auch wenn es „in der Sache sehr, sehr unterschiedliche Ansichten“ gebe, die er klar vorgetragen habe, so Scholz weiter. Das war wieder so ein ungeschickter Sprech von Scholz. Wie kann man freundlichst im Ton über Massenmord sprechen? Und „die Sache“ ist Krieg, Elend, Verderben und Tod, nicht ein beliebiger Disput unter Staatsmännern.
Aber gut, vor kleinlicher Kritik sollte man sich hüten. Scholz versucht halt, was er kann, um sich dem Horror des dritten Weltkriegs zu stellen. Und es liegt ja nicht in seiner Hand, dies zu verhindern. Putin allein wird entscheiden, ob er in einem selbstmörderischen Wahn sein Land und die Welt in die absolute Apokalypse treibt. Vor ihm und seiner absurden Weltsicht einen Kniefall zu machen, würde auch nichts ändern. Dann stünde er übermorgen mit seinen Truppen in Berlin. Und vor diesem Hintergrund mit Putin zu telefonieren, darf einem menschlich schon Respekt abfordern. Das muss unermesslich schwer sein, das muss man erstmal bringen!
Die Frage, die über allem schwebt, lässt sich nicht wirklich beantworten: Wie reagiert Putin unter Druck tatsächlich? Denn eines ist klar: Es läuft für ihn so gar nicht nach Plan. In der Ukraine gerät Russland militärisch immer mehr ins Hintertreffen, muss viele besetzte Gebiete fluchtartig verlassen. Im eigenen Land hat Putin durch die Mobilmachung große Unruhe erzeugt, mit Fluchtbewegungen enormen Ausmaßes von russischen Männern, die nicht einsehen wollen, warum sie mal eben ihr Leben für Putins Sache opfern sollen. Es ist also so: In der größten Krise seiner Machtausübung wird Putin wohl kaum den kontrollierten Rückzug antreten. Ihm bleibt nur die Flucht nach vorne, und das ist fürchterlich.
Um sich zu rüsten, hat Putin sich schon länger ein Gebilde zurecht gelegt, das immer die Verantwortung genau umdreht: Er selbst hat den Krieg mit all seinen Opfern (auch auf russischer Seite) befohlen und real werden lassen. Nur er, niemand sonst. Aber dann redet er von „Verteidigung“ gegenüber der USA und dem „Westen“, also ob tatsächlich jemand Russland mit all seinen Atomwaffen hätte angreifen wollen. Völlig absurd.
Wie kann man Wahrheit und Lügen da unterscheiden? Ganz einfach: Die Wahrheit ist, was tatsächlich geschah, nämlich Russlands Überfall auf die Ukraine. Die Lüge ist alles, was danach als Rechtfertigung bemüht wird.
In Putins irrer Rede behauptete er doch glatt, dass „die Unterdrückung der Freiheit die Form einer verkehrten Religion, von echtem Satanismus“ angenommen habe. Hallo? Wo wird denn jegliche Freiheit unterdrückt, und von welchem Satan bitte schön? Putin muss schon ziemlich abgedriftet sein, um noch zu glauben, dass solche Phantasien fruchten könnten. Er stilisiert sich und sein Kriegsrussland zum Führer einen „freien“ Welt. Aber die Welt, selbst China und Indien, gehen auf Distanz. Ungewiss ist auch, was die Elite in Russland selbst davon hält. Wie weit wird man ihm folgen? Bis in den Atomkrieg? Bis in den sicheren Untergang?
Bedrohlich ist auf jeden Fall, dass Putin in seinem eigenen Phantasiegebilde lebt. Da scheint ein rationaler Zugang kaum mehr möglich. Er hat in seiner Rede „den Westen“ offiziell als Kriegsgegner bezeichnet. Sein Verweis auf die Präzedenzfälle von Hiroshima und Nagasaki zeigt, wie ernsthaft er erwägt, eine Atombombe einzusetzen. Vielleicht um zu sehen, was der Westen sich dann traut. Kein Telefonat kann das ändern.